Brigitte Werner

Von der Schönheit des Augenblicks

Nr 172 | April 2014

Ich schreibe an dieser Stelle über Zufälle und habe keine Ahnung, was sie wirklich sind, ob sie eine Bedeutung haben oder ein Schabernack des Universums sind. Kichert dort jemand, ist es ein Er-Sie-oder-Es? Ich glaube nicht an Zufälle, sagen so manche und entpuppen sich als Esoterikfreaks oder gläubige Menschen. Oder sind sie besonders einfältig? Als Kind habe ich bereits über diese Begriffe nachgedacht, kindlich ernsthaft, da waren die Zufälle die kleinen oder großen Wunder in meinem Leben. Manchmal auch die kleinen und großen Katastrophen. Gab es Parallelwelten?
Ich wusste, dass es sie gab. Direkt um die Ecke. Ich konnte sie erkunden, nachts in meinen Fliegeträumen. Sie waren so echt wie das Tagesgeschehen, unter dem ich meistens litt. Oder waren sie Fluchten, kleine Rettungen? Ich habe keine Ahnung. Je mehr ich über Zufälle nachdenke, umso weniger verstehe ich. Ist es nicht im gewissen Sinn die Basisfrage, der Kern, um den sich diese Welt dreht? Gibt es einen Sinn in unserem Leben? Wenn ja, warum? Und welchen? Oder ist alles ein großer Jux?
Als Kind hatte diese Frage nur eine einzige Antwort. Klar, es musste einen Sinn geben. Wie konnte sonst die Natur sterben und wieder- und wiederkehren. Und klar, irgendeiner oder irgendetwas hatte sich diese Libellenwunderflügel erdacht. Später in meinem Mathematikstudium, im Seminar über Wahrscheinlich­keits­rechnung, wurde es auf andere Art deutlich. Wie viele «Zufälle» allein wären nötig gewesen, um eine solche Libelle zu gestalten, eine Rose mit diesem Duft, den Flug der Vögel, die geistigen Möglichkeiten eines menschlichen Gehirns.
Ich bin kein religiöser Mensch, die Kirche ist nicht mein bester Freund, aber einen großen Sinn, eine große, wissende, kreative Kraft muss es geben. Jedenfalls für mich. Und die Zufälle, die ich schon als Kind sehr deutlich wahrgenommen habe, machten mich wach. Sie schärften meine Aufmerksamkeit für die Begebenheiten im Alltag, die ich bestaunen und bewundern konnte. Und die, die ich nicht mitbekommen habe, die führten mich zu Fragen: Was wäre gewesen, wenn ... Das wiederum waren eine spezielle Sorte von Kopfschmerzfragen. Und es gab jede Menge mögliche Kopfschmerzantworten.
Wenn man ein ängstliches, scheues, stilles Kind ist, das nie genau weiß, ob ihm ein hellgelbblauer Tag oder ein zornroter Tag bevorsteht, so gibt es zum großen Glück ein paar Möglichkeiten für ein unauffälliges Verschwinden. Ich schlich mich einfach durch die stets angelehnte Tür davon, die mitten irgendwo in mir drin war und in einen üppigen Garten führte oder in die samtige Dunkelheit zwischen den Wolken, die man mit den Armen zerteilen konnte wie warmes Wasser.
Entdeckt man diese Möglichkeiten zufällig? Entdeckt man sie praktischer Weise immer, weil man sie bei der Geburt gleich mitge­liefert bekommen hat? Glaubt nicht jedes Kind an einen sicheren Ort, der ihm vertraut ist, egal, ob im Innern oder im Außen? Ich glaube schon. Damals wusste ich noch, trotz aller Schwierigkeiten, um einen Ort der Geborgenheit, von dem ich herkam, zu dem ich zurückgehen würde und nach dem ich mich stets sehnte. Mit dem Ende der Kindheit ging er verloren. Der Verstand, der missliche Richter, gab ihm das Todesurteil. Aber die Zufälle – diese unglaublichen, aber doch wirklich und wahrhaftig passierenden Zufälle, die oft mein Leben mitgestaltet haben, manchmal auf geradezu gewaltige Weise, sie ließen mich immer wieder neu über Sinn und Unsinn des Lebens nachdenken. Sie führten mich zurück zu meiner kind­lichen Sicht der Dinge. Und ja, sie lassen mich stets staunen über die Schönheit, die in einem Augenblick stecken kann. Und so werde ich immer wieder wachgerüttelt, um achtsamer durchs Leben zu gehen. Unachtsam bin ich aber gerade ziemlich abgeschweift. Doch zu­fälligerweise wollte ich genau das alles hier an dieser Stelle sagen.