Brigitte Werner

Der Besuch

Nr 174 | Juni 2014

Es war ein schlimmes Jahr gewesen. Mein Herz hatte ein paar heftige Kratzer und Beulen bekommen, meine Tränen überfluteten den Rhein-Herne-Kanal. Aber meine Freunde standen an meiner Seite, und ich begriff zum ersten Mal wirklich, was eine Freund­schaft geben und aushalten kann. Der Mai kam, es war ein wunderbarer Mai, prallvoll mit verheißungsvollen Knospen, grünen Ge­rüchen und meinem Geburtstag mittendrin. Und mein verkrumpeltes Herz knospte ebenfalls und glaubte an einen neuen Sommer. Das musste gefeiert werden. Es wurde ein großes Fest. Alle waren gekommen. Mit Kind und Kegel. Mit Hund und Katz. Mit Gitarrenklängen und mit viel Gelächter, Tanz und Gesang.
Als es dämmerte, blühten die Lampions in allen Farben auf, Kerzen flackerten, und eine große Sanftheit wuchs um alles herum. Da sehe ich ein sehr altes Gesicht über die Hecke am Eingang lugen, ein liebes Gesicht mit einem scheuen Lächeln. Ich gehe auf den alten Mann zu, ich kenne ihn nicht, er ist klein und trägt einen zerschlissenen schwarzen Anzug. Er schaut mich aufmerksam und freundlich an. Ich erzähle ihm, dass wir ein großes Fest feiern, sozusagen meine Wiedergeburt, ich traue mich einfach und erzähle ihm von meinem Kummer, der gerade dabei ist, sich zu verabschieden. Er hört still zu. Er sagt kein einziges Wort, aber seine Augen lächeln. Ich bitte ihn dringlichst, mit uns zu feiern, ein Glas Wein zu trinken und etwas zu bleiben. Es geht ein mir unbekannter, tiefer Frieden von ihm aus, dass ich losheulen könnte. Ich hätte mich gerne an seine Schulter gelehnt. Ich sage ihm, dass ich nur schnell einen Stuhl hole. Als ich zurückkomme, umringen ihn die Kinder. Die kleine Lucy hat den alten Mann von hinten umschlungen, der kleine Aaron hält seine Hand. Ich stelle ihm den Stuhl hin und reiche ihm ein Glas Rotwein. Er setzt sich. Er lächelt mich an und trinkt einen Schluck. Er sagt kein Wort. Ich werde nun woanders gebraucht. Ich drehe mich noch einmal zu ihm um, die Kinder blicken stumm zu ihm hoch, die kleine Kaja sitzt vor ihm im Gras und lehnt sich an seine Knie. Es ist ein sehr eindringliches Bild, ich werde es nie vergessen. Irgendwann will ich meinem unbekannten Gast etwas zu essen bringen, ich würde auch zu gerne wissen, wie er heißt, wo er her kommt – aber er ist fort. Der Stuhl ist leer. Keine Ahnung, wo er ist. Die Kinder schauen mich an, ziehen die Schultern hoch und wissen von nichts. Ich bin fassungslos. Irgendwer musste doch bemerkt haben, dass er ging. Nein, das hatte niemand.
Ich suche ihn jeden Tag in den Geschäften der Einkaufs­zone, ich fahre mit dem Fahrrad durch alle Straßen, ich frage überall nach ihm … Ich sehe diesen alten Mann nie wieder. Aaron, der damals noch seine kindliche Hellsichtigkeit hatte, meinte so nebenbei: Das war doch ein Engel, die können das …
Viele Jahre später, als ich mit einer Freundin über Seltsamkeiten und Zufälle rede, fällt mir diese Begegnung wieder ein und ich bekomme eine Gänsehaut. Ich wusste plötzlich mit großer Klarheit, dass ich damals Jan Bernasiewicz begegnet war, der lange Zeit als Foto von meiner Pinwand auf mich heruntergelächelt hatte, dieser alte polnische Holzbildhauer, der die aberwitzigsten Figuren baute und in seinen Garten stellte. Die Menschen kamen von weit her, um sie zu bestaunen. Es gab einen wundervollen Bildband über ihn, den hatte ich zwei, drei Jahre vor dem Fest geschenkt bekommen. Diesen kleinen alten Mann habe ich sofort geliebt. Später habe ich einen Roman geschrieben, in dem er die Haupt­person ist: Mein Opa Leo. Liebenswert, verschmitzt und weise. Beim Schreiben hatte ich ihn immer vor Augen.
Na ja, man kann das nun alles glauben oder nicht. Ich denke oft, dass er vielleicht damals schon wusste, dass ich später mal ein Buch über ihn schreiben würde. Ich hatte davon noch keine Ahnung. Und vielleicht wollte er nur mal nachschauen, ob diese Dame das hinkriegen würde. – Ich hoffe, ich habe ihn nicht enttäuscht.