Birte Müller

Zaungeschichten

Nr 183 | März 2015

Als ich Kind war, fuhr ich regelmäßig mit dem Fahrrad an einer Wohnanlage für behinderte Menschen vorbei. Ich schaute dort immer in den eingezäunten Garten. Ich fand es faszinierend, im Vorbeifahren diese sonderbaren Menschen zu betrachten.
Am Stadtrand Hamburgs gibt es seit knapp zwei Jahren eine Ein­richtung zum Kurzeitwohnen für schwerbehinderte Kinder: den Neuen Kupferhof. Es gibt mehrere Orte, an denen Willi allein Ferien machen könnte, sodass mein Mann und ich auch mal Erholung und Zeit nur mit Olivia haben, aber keiner ist wie
dieser. Das Besondere ist, dass hier auch die Eltern und Geschwister mitwohnen dürfen. Man kann sein Kind 24 Stunden betreuen lassen. Muss es aber nicht! Wann immer es die Eltern wünschen, verbringen sie Zeit mit ihrem behinderten Kind, essen gemeinsam oder bringen es zu Bett – ohne sich dazu verpflichtet zu fühlen oder ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Niemand erzählt einem, dass es besser für das Kind sei, wenn die Mutter lieber gar nicht auftaucht, oder verdreht die Augen, wenn man sein Kind in dem Moment, wo die Windel voll ist, wieder an die Pfleger übergibt. Es handelt sich um eine wunderschöne Villa, die aufwendig renoviert wurde und (in meinen Augen) geradezu luxuriös eingerichtet ist. Es wirkt an keiner Stelle wie ein Heim, eher wie ein familiäres Hotel der Oberklasse. Im ganzen Haus ist Parkett verlegt, und es muss ein Lichtdesigner am Werk gewesen sein. Der Speise­saal wirkt wie ein gemütliches Café. Umgeben ist der Prachtbau von einem traumhaften (und natürlich gut eingezäunten) Garten, ausgestattet mit Gokarts, Schaukeln (auch für Rollstühle!), Fuß­balltoren und schicken Gartenmöbeln.
Zusätzlich zum Personal wird der Kupferhof von vielen Freiwilligen unterstützt. Sie bieten Unternehmungen mit den Geschwister­kindern an, Mal- oder Häkelkurse mit den Müttern oder Musi­zieren für die Kinder. Sie bringen Therapiehunde mit, helfen im Garten, in der Küche und überall. Ein Großteil der Innenein­richtung besteht aus Sachspenden: In allen Zimmern gibt es des­wegen Flachbildschirme und stylische CD-Spieler, der Fernseher im Elternzimmer hat die gefühlte Größe eines Handballtores. Im Keller steht eine Tischtennisplatte, ein Kicker und ein Billardtisch!
Ich musste viel nachdenken über diesen Luxus. Wenn ein Haus mit Spenden eingerichtet wird, erwarte ich ein Sammel­surium aus ausrangierten Dingen – und das hätte ich durchaus in Ordnung gefunden. Ich bekam auch regelrecht ein schlechtes Gewissen, dass Ehrenamtliche für uns ihre Freizeit opfern. In mir hockte fest der Gedanke, dass wir das alles gar nicht wirklich nötig hätten.
Bei unserem ersten Aufenthalt im Kupferhof letzten Herbst ging ich in einer dieser herrlichen Pausen, die ich von zu Hause gar nicht kenne, in den Speisesaal. Ich schaute mir das Teesortiment an und wählte ein pyramidenförmiges seidiges Beutelchen mit duftenden Teeblättern darin. Hätte man mich vorher gefragt, ob ich so einen edlen Tee brauche, ich hätte Nein geantwortet. Doch plötzlich musste ich vor Freude weinen. Mir liefen die Tränen, weil dieser Ort mir sagte: Doch, du bist das wert! Diesen kleinen Luxus, du hast ihn verdient. Und gleichzeitig übermannte mich das Bewusst­sein: Ja, du hast es nötig, hier zu sein! – Ich setzte mich mit meinem Tee auf die Terrasse. Es war ein schöner Tag. Hinter dem Zaun gingen viele Menschen spazieren, und sie schauten in den Garten zu meinem Sohn Willi und den anderen Kindern. Mir wurde klar, dass nun wir die Familie auf der anderen Seite des Zaunes sind – und das schmerzte mich nicht. Danke für diesen Ort!