Birte Müller

Erlebnisleben

Nr 190 | Oktober 2015

Einmal wurde ich mit meiner Tochter zu einem Ausflug einge­laden – und zwar in einen «Erlebniswald». Vielleicht stimmt mit mir etwas nicht, aber allein das Wort regt mich schon auf! Ja, in einem normalen Wald kann man natürlich heutzutage gar nichts mehr erleben, es muss schon ein «Erlebniswald» sein! Dort werden dann zurechtgesägte Kletter- und Balancierbäume hindrapiert und ein Bodenerlebnispfad sowie die Picknickplätze auf der Lichtung ausgeschildert. Ein echtes Walderlebnis, wie mit einem Schnitz­messer einen Ast zu bearbeiten, auch wenn man sich mal schneiden kann, ist aber ein unerwünschtes Erlebnis – auf jeden Fall erlaubte außer mir seinem Kind damals niemand zu schnitzen.
Wir hatten einen tollen Tag im Erlebniswald, das will ich gar nicht abstreiten, trotzdem finde ich es bescheuert, dass man offensichtlich nicht mehr einfach so in den Wald gehen kann. Überall soll einem etwas «geboten» werden. Einmal erzählten mir die Erzieherinnen in Willis früherem Kindergarten, es hätten Eltern nach dem Urlaub im Robinson-Club zu ihnen gesagt, dass sie sich von dem Animations­programm dort mal eine Scheibe abschneiden sollten. Wenn man überall und ständig Bespaßung bietet, was kommen denn da für Kinder heraus?
Ich gehe gerne mit meinen Kindern ins Schwimmbad, wir erleben immer etwas. Warum muss es da ein «Erlebnisbad» sein? Und warum sind alle Regenjacken jetzt «Funktionsjacken»? Wenn ich darin nass werde, funktioniert sie nicht, egal wie man sie nennt.
Mich nervt das alles, ich will gerne eine Molkerei mit meinen Kinder anschauen, aber wenn «Erlebnismolkerei» dransteht, habe ich schon keine Lust mehr. Ich halte das alles für Volksverblödung: «Wohlfühl-Hotels», «Wellness-Klamotten» – das ist lächerlich! Es ist doch klar, dass ich mich im Hotel oder meiner Kleidung wohlfühlen will. Das Albernste, was ich bis jetzt gesehen habe, war ein alter Gouda, der im Supermarkt als «Vintage-Käse» deklariert war! Irgendwelche Werbefuzzis glauben echt, dass man uns mit diesen beknackten Wörtern zu mehr Konsum bewegen kann. Bei mir funktioniert das aber nicht! Neulich war ich sehr, sehr hungrig, denn bei meinem Erlebnisleben komme ich oft nicht dazu, zwischen­durch mal eine kleine Wellnessmahlzeit zu genießen. Aus irgendeinem Grund hatte ich die Zeit, etwas essen zu gehen. Ich wollte mich einfach nur hinsetzen und mich bedienen lassen – wohlfühlen pur! Ich betrat eine kleine «Café-Restaurant-Lounge», wo ich von der Karte mit 50 Gerichten vollkommen über­fordert war. Ich hatte keine Energie, großartig Entscheidungen zu treffen, und fragte nach dem Tagesgericht. Das Tagesgericht war der «Erlebnis-Wok», wo ich unter wiederum 50 Zutaten wählen konnte und dann danebenstehe sollte, während gekocht wurde! Es hätte mich nicht gewundert, wenn das Waschen und Schneiden des Gemüses sowie der Abwasch auch zum Erlebnis gehört hätten. Auf jeden Fall verließ ich den Laden sofort und kaufte mir einen Apfel. Aber vielleicht bin ich auch einfach nur zu vintage für all das Zeug.
Wenn den Menschen tatsächlich Erlebnisse fehlen, warum werden dann eigentlich behinderte Menschen systematisch vorgeburtlich aussortiert? Man könnte sie doch den werdenden Eltern als «Erlebnis­kinder» verkaufen! Auch wenn man bei einem behinderten Kind sicher keinerlei Garantien geben kann, so doch ganz sicher die auf ein erlebnisreiches Leben! Gut, ein Wellnessleben wird es vielleicht nicht immer sein – aber das kann mit einem «Funktionskind» auch passieren!