Birte Müller

Ich wollte Gelb!

Nr 193 | Januar 2016

Neulich wurde Olivia gefragt, ob sie später Kinder haben wolle. Sie antwortete spontan, dass sie gerne zwei Kinder hätte: eines behindert und eines nicht. Auf die Frage, ob das Kind eine bestimmte Behinderung haben sollte, sagte sie, das sei egal, Rollstuhl sei auch egal, nur müsste es sprechen können.
Mich hat das sehr gerührt und zugleich auch ein wenig traurig gemacht. Nicht sprechen zu können ist tatsächlich die Einschränkung, unter der unser Sohn Willi (und offensichtlich auch seine Schwester) am meisten leidet. Wer nicht sprechen kann, muss einfach oft schreien. Es war auch schon immer mein wunder Punkt in der Angst um Willis Entwicklung. Und Sprüche wie «Sei doch froh, dass er nicht spricht! Was meinst du, wie es nervt, dass mein Sohn den ganzen Tag quatscht» konnte ich nie lustig finden.
Ich schreibe gerne Listen. Auf einer Liste notiere ich mir besonders schöne Sachen, die Olivia gesagt hat. Darauf stehen zum Beispiel – neben ihrem Kinderwunsch – auch Sprüche wie: «Papa, dein Kopf schaut durch die Haare.» Als kleines Kind sagte sie «langsamzieren» statt «balancieren», und sie dachte, es heiße «Einhörnchen» statt «Eichhörnchen». Einmal stürzte sie mit dem Laufrad und schluchzte laut, sie habe einen «Umfall» gehabt!
Von Willi gibt es so eine Liste nicht. Von ihm gibt es nur eine einzige Stilblüte: An Silvester standen wir am Fenster, und Willi freute sich inbrünstig über jede Rakete am Himmel. Aus Quatsch nannten wir den Funkenregen «Glitzer-Popitzer», worauf Willi danach bei jeder Rakete begeistert die Gebärde für Pizza machte. Lustig!
Ich habe vor Jahren begonnen, eine Liste zu schreiben, in welchen Fällen wir wohl froh sein können, dass unser Kind nicht sprechen kann. Es stehen nur drei Sachen drauf:
1. Willi kann im Kindergarten nicht erzählen, dass er nachts Durchfall hatte.
2. Willi kann nicht Dinge sagen wie: «Papa, dein Kopf schaut durch die Haare.»
3. Willi kann in der Schule nicht erzählen, dass Papa ihm seinen Finger hinhält und «Zieh mal» sagt, um dann laut zu pupsen.
Die «Vorteilsliste», die es gäbe, wenn ein Kind spricht, könnte unendlich lang sein – und ich habe sie deshalb gar nicht geschrieben. Ein sicherer Vorteil am Sprechenkönnen ist auf jeden Fall, dass man nicht im hohen Bogen von der Schaukel fliegt, wenn man versucht, mit Gebärden etwas zu sagen. Mir tut Willi leid – so oft wird er nicht verstanden, und auch wir rätseln oft herum, was seine Laut- oder Handzeichen bedeuten oder warum er weint und schreit.
Natürlich ist es auch mit Olivia anstrengend, wenn ich mich mal kurz auf etwas konzentrieren muss und sie mich dabei durchgängig vollsabbelt, nur unterbrochen von der stereotypen Aufforderung: «Mama, guck mal!» Aber nie im Leben würde ich das wegtauschen. Deswegen bin ich immer etwas neidisch auf jene Kinder mit Down-Syndrom, die sprechen können. Was für eine lange Liste könnte ich dann mit Willis Worten schreiben und mich daran erfreuen! Vor einiger Zeit habe ich in einem Elternforum eine Geschichte gelesen, die ich so lustig finde, dass ich sie hier erzählen möchte: Ein Junge mit Down-Syndrom ging mit seiner Mutter zum Friseur.
Genussvoll ließ er alles mit sich geschehen, bekam aber am Ende, als die Friseurin sagte, sie sei fertig, einen richtigen Anfall. Auf die Frage, was denn falsch sei, antwortete er empört: «Ich wollte Gelb – wie Helene Fischer!» Vielleicht ist das der Grund, warum Willi so sehr weint, wenn wir ihm die Haare schneiden. Vielleicht will er Gelb – und wir wissen es nicht, er kann es ja leider nicht sagen.