Birte Müller

Wegwerfgesellschaft I

Nr 195 | März 2016

Alle reden von der Wegwerfgesellschaft, nur bei uns zu Hause bleibt alles liegen! Dass ich mich selbst schwer von Dingen trennen kann, darf ich zum Glück immer meinem Künstlerdasein in die Schuhe schieben. Ich weiß ja nie, ob ich aus diesem Bildband beispielsweise nicht irgendwann etwas übermalen möchte oder aus jenem alten Shirt noch mal etwas nähen will. Und zum Unterlegen oder als Wischlappen geht ja eigentlich alles noch! Ich hoffte aber, mit dem Eintritt ins Schulalter (und dem Umstand, dass nun der Müll im Schulranzen selbst geschleppt werden muss) wäre wenigstens meine Tochter endlich kuriert vom ewigen Sammeln von Steinen, Stöcken, Schrauben, Drähten und jedem erdenklichen anderen Müll. Stattdessen muss ich nun täglich Olivias Ranzen, sämt­liche Taschen und sogar die Schuhe ausleeren, da meine Tochter sonst am Ende der Woche das Doppelte ihres Eigengewichts darin an Krams angehäuft hätte. Natürlich ist das alles ganz und gar kein Müll, es sind vielmehr ihre Schätze – und jedes einzelne Teil davon kann man irgendwann im Leben noch mal dringend brauchen. Selbst den Sand aus den Jackentaschen darf ich nicht ausschütteln, es handelt sich dabei anscheinend um «Seltene Erden»!
Das Schlimme ist: Ich kann meine Tochter so gut ver­stehen. Und das macht für mich das Ausmisten umso schwieriger, da ich ja genau weiß, dass wir das Stück Holz, das ich nun schon hundertmal in die Hand genommen habe, um es endlich wegzuwerfen, genau dann dringend benötigen werden, wenn ich es endlich entsorgt habe. Als Alibi, um möglichst all die wertvollen Gegenstände meiner Tochter behalten zu können, haben wir schon alles Mögliche und Unmögliche mit Steinen und Muscheln beklebt, Sand eingefüllt und skurrile Mobiles ge­bastelt. Doch auch dieses Zeug muss ja wieder gelagert werden und lässt sich nicht unendlich anhäufen. Außer man sorgt regelmäßig für Anbauten am Haus …
Mein armer, armer Mann! Ihm waren es schon zu viele Bilder in unserer Wohnung, Bevor wir Kinder hatten! Hauptsächlich ihm zuliebe mache ich mich nachts manchmal auf heimliche Wegwerfstreifzüge durch Olivias Sammelsurien aus Strand­- gut und verrosteten Metallteilen im wüsten Durchein­ander mit unendlich viel Glitzer- und Plastikkleinscheiß, Perlen, Auf­klebern und selbst gebasteltem Schnickschnack. Aber da ich auch alles mehrfach umdrehe, bevor es wegkommt, dauert es ewig, und ich habe immer nur eine kleine Ausbeute. Auch kann ich fast darauf schwören, dass genau am folgenden Tag meine Tochter morgens zufällig draußen in die Mülltonne schaut und mich erwischt. Aber noch schlimmer ist es, wenn sie unbedingt plötzlich einen vor Ewigkeiten angeschleppten Lehmklumpen benötigt und in Tränen der Enttäuschung ausbricht, wenn ich zugeben muss, dass ich ihn weggeworfen habe. Ich weiß doch, wie wunderbar es sich anfühlt, plötzlich Verwendung für etwas scheinbar Nutzloses zu finden, das einen schon so lange begleitet hat. Eine alte Baumwurzel ist für Olivia und mich eben nicht einfach ein dreckiger Stock, sondern eine Verheißung auf einen wunderbaren Moment im Leben, in dem wir daraus endlich irgendetwas Großartiges machen werden.
Es gibt Leute, die kaufen sich in Einrichtungshäusern Steine oder ganze Gebinde aus langen Stöcken, um sie sich freiwillig ins Wohnzimmer zu stellen! Für meinen Mann ist es eines der größten Rätsel der Menschheitsgeschichte, wie man dafür auch noch Geld ausgeben kann, wenn man schon das Glück hat, nicht mit einer Frau wie mir und einer Tochter wie der seinen leben zu müssen!