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Irmgard Kutsch und Brigitte Walden

Rein ins Raus

Nr 199 | Juli 2016

Wir laden ein in ein Land voller Wunder, über die man staunen kann, einen Lebensraum voller Steine, Pflanzen und Tiere in zahlreichen Farben und Formen, ein Fleckchen Erde, mal von der Sonne beschienen, mal vom Regen benetzt, über das der Wind bläst und die Wolken treiben.
Es ist ein Garten, in dem sich Jung und Alt, Groß und Klein von nah und fern zusammenfinden, um einen Lehmofen oder eine Hütte zu bauen, einen Wanderstab zu schnitzen, Wolle zu waschen, duftende Kräuter und frischen Salat zu pflücken und köstliche Beeren zu naschen.
In dieser sinnenreichen Umgebung werden unmittelbar Fragen wach: Wie mag wohl unsere Welt in zwanzig bis vierzig Jahren aussehen? Welche Fähigkeiten sollten Kinder von heute schon in jungen Jahren erwerben können, um in ihrem späteren Leben innovative Ansätze für die Gestaltung einer l(i)ebenswerten Zukunft zu finden und mit einem gesunden Selbstbewusstsein in der Welt zu stehen? Wie können die in der naturbezogenen Bildungsarbeit mit Kindern wirkenden Erwachsenen Einblick in Naturzusammenhänge gewinnen? Welches Bildungsangebot brauchen sie selbst, um für Kinder in überzeugender und nachahmenswerter Weise lebenspraktisch tätig werden zu können?
Im Rückblick auf viele Jahre naturbezogene Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen wird deutlich, dass die Zahl der Kinder mit Entwicklungs-, Wahrnehmungs- und Bewegungsstörungen sowie mit extremen Verhaltensauffälligkeiten und Sprachdefiziten beständig zunimmt. Dies liegt unter anderem darin begründet, dass virtuelle Scheinwelten den Kindern vorgaukeln, sie könnten allein über ihren visuellauditiven Sinnes­kanal Zugang zu Erfahrbarem bekommen. Die Welt wird tatsächlich aber – vor allem in den Kinderjahren – durch das tätige Erleben der Um- und Mitweltphänomene begriffen, es gilt also im wahren Sinne des Wortes: Begreifen durch Be­Greifen! Deshalb klettern in der Natur-Kinder-Garten-Werkstatt die Kinder auf hohe Bäume, schauen in den tiefen Brunnen, matschen im Lehm – und die Erwachsenen begleiten dies als interessierte, wohlwollende Helfer.
Die einzelnen Bereiche erfassen Zusammenhänge mensch­licher Existenzgrundlagen wie Ernährung, Bekleidung, Behausung und führen zu einem neuen Wertbewusstsein. Gartenbau, Tierpflege, das Leben mit den Naturelementen Feuer, Wasser, Luft und Erde sowie viel Bewegung in Naturaußengeländen stärken die physische Entwicklung und fördern die sinnliche Wahr­nehmung und das seelische Wohlbefinden. Durch zahlreiche Handwerkstätigkeiten werden Grob- und Feinmotorik ausge­bildet. Geordnete Arbeitsabläufe – von rhythmischen Sprach­elementen begleitet – erleichtern den Spracherwerb.
Durch das bewusste Einbeziehen interkultureller und generationsverbindender Gegebenheiten und unter dem Aspekt des künstlerischen Gestaltens ist die Arbeit gezielt gegenwartsbezogen, zugleich aber auch zukunftsweisend. So lernen Kinder verschiedener Kultur- und Religionszugehörigkeiten, in Toleranz und Akzeptanz miteinander zu leben. – Mit der Hilfe aller Beteiligten werden aus ehemals einsamen Inseln der Bildung und Erziehung nun wissende und könnende Netzwerkpartner, die sich zusammen mit der Natur-Kinder-Garten-Werkstatt an einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Neuorientierung im Sinne einer neuen sozialen Kultur beteiligen. Sie formulieren: Wenn die Welt zu mir gehört und ich ein liebender und geliebter Teil von ihr werde, so erwächst daraus ein neues Gefühl des Selbst-Bewusst-Seins. Das philosophische Prinzip von Descartes, «Ich denke, also bin ich», findet Erweiterung in dem Kernsatz «Ich nehme teil, also bin ich». Dabei geht es ihnen nicht etwa um ein «Zurück zur Natur» im Sinne einer Verteufelung von Technik und Fortschritt, deren Segen wir ja alle nutzen, sondern vielmehr um ein Bewusstsein der Ver­bundenheit mit der Welt im Einklang mit den Errungenschaften der modernen Zivilisation. Also: vorwärts mit der Natur!