Birte Müller

Noch können

Nr 204 | Dezember 2016

Ich wette, jede Mutter hat den folgenden Satz schon gedacht: «Ich kann nicht mehr!» Wahrscheinlich ist sogar jeder Mensch schon an dem Punkt gewesen, dass er spürte, er kann nicht mehr – und trotzdem hat er weitergemacht.
Ich wundere mich im Nachhinein, ob mit meinem Gefühl etwas nicht gestimmt hat? Denn ich war noch nicht an dem Punkt, dass ich nicht mehr konnte. Aber woran erkenne ich den Punkt? Ist er in Wirklichkeit erst erreicht, wenn ich umfalle?
Wenn ich zu lange ganz allein die häuslichen Routinen abarbeiten muss, bekomme ich irgendwann das Gefühl, dass ich mich nicht drehen oder wenden kann, ohne dass mir ein Kind im Weg steht oder jemand an mir zerrt. Wenn die Kinder spielen, sehe ich nur die Arbeit, die mir ihre Unordnung macht, und wenn sie essen, nur noch die Krümel und das Geschmiere. Ich merke dann, dass ich mich wie eine Mutter verhalte, die ich nicht sein will: Ich schiebe und zerre meine Kinder genervt umher, werde sarkastisch und sogar laut! Ich weiß, dass ich mir schon vor Eintritt dieses Zustandes dringend Hilfe holen muss. Ich schreibe dann einen Kurantrag, aber der bringt kurzfristig auch nichts. Also bitte ich unsere unersetzlichen Omas und Opas und meinen Bruder, an den Wochenenden Extraschichten zu schieben.
Das Schlimmste sind aber die Abende: Wenn ich an zwanzig aufeinanderfolgenden Tagen dieses zähe Ritual mit Willis vollgemachten Windeln, Zähneputzkämpfen und Anziehtheater hinter mir habe, während unten eine rumpelige Wohnung und Olivia mit ihrem Hausaufgaben-Drama warten, dann habe ich keinen sehnlicheren Wunsch als bitte, bitte einfach dieses Haus zu verlassen und dass sich irgend jemand anderes um den ganzen Scheiß kümmert!
Mein Mann hat in der letzten Zeit viel (zu viel!) auswärts gearbeitet. Nachdem ich Willi den ersten Klaps seines Lebens auf den Hintern verpasst hatte, versuchte ich professionelle Unterstützung zu bekommen. Zum Glück hat Willi nicht begriffen, was ich getan hatte, denn die Intensität dieses Klapses unterscheid sich nicht von den liebevollen Klapsen, die er lustig findet. Aber für mich machte es einen riesigen Unterschied! Ich hatte mein Kind gehauen – und selbst wenn Willi nicht begriff, warum ich weinte und mich entschuldigte, tat es mir unendlich leid! Willi hat mich dann getröstet ...
Ich erzählte überall herum, dass ich am Limit war, ein Hilfe­ruf. Im Nachhinein bin ich schockiert, an wie viele öffent­liche Stellen ich mich gewandt habe, ohne dass etwas passierte. Irgendwann war ich so kaputt, dass ich NICHTS mehr tun konnte außer durchzuhalten – jedes Hilfeplangespräch, jedes Telefonat, jeder auszufüllende Zettel waren ab da vollkommen unmöglich!
Jetzt kenne ich die Antwort auf die Frage, wie man eigentlich den Punkt erkennt, an dem man nicht mehr kann. Man erkennt ihn – ab dem Moment, wo er überschritten ist – gar nicht mehr. Man kann dann bestenfalls noch funktionieren.
Nicht vom Pflegedienst oder der Familienhilfe kam in dieser Zeit übrigens praktische Unterstützung, sondern unsere Kassiererin bei Aldi und Willis Fahrer vom Deutschen Roten Kreuz haben mir angeboten, im Notfall einzuspringen!
Nur dank der kleinen Hilfen und Rücksichtsnahmen von vielen Menschen um uns herum habe ich nicht versucht, mich auf die Größe einer Babyklappe zurechtzuschnitzen. Aber wenn Willi und Olivia aus dem Haus sind, erfinde ich die Eltern­klappe: Einfach reinlegen, Klappe zu, und die Kinder werden von einem Mitglied des Elternklappe e.V. zu Bett gebracht, geduldig, ohne Fragebögen und inklusive sauberer Küche – aber ich mache da nur den Telefondienst!