Brigitte Werner

Wanze und Wal

Nr 208 | April 2017

Die Lesung ist vorbei. Alles ist gut gelaufen, die Kinder waren aufmerksam und von der Geschichte begeistert. Der dicke Elefant mit seinem Problem eroberte die Herzen im Nu, die kleine freche Ratte mit Namen Schnauze sowieso. Die Kinder haben sogar mit mir über das Thema Depression ernsthaft diskutiert. Denn Bommelböhmer war aus Trauer über den vermeintlichen Verlust von Schnauze in eine tiefe, ohnmächtige Melancholie gefallen.
Ich bin erschöpft, weil man mir gegen unsere Absprache fast die doppelte Menge Kinder in einen engen Raum gezwängt hatte. Ich schleiche über den leeren Schulhof, die Mülltonen stinken, um den Betonboden stehen staubige, ungepflegte Büsche. Ich sehne mich nach meinem Lieblingscafé. Das ist aber noch 120 km weit weg. Aus dem Gebüsch neben den Mülltonnen leuchten zwei Schuhspitzen in Neongrün. Jemand hat die Schuhe wohl verloren. Ich bücke mich danach, da zucken sie zurück. Ich erschrecke heftig. Da hockt jemand im Gebüsch und will nicht gesehen werden. Dumm gelaufen mit diesen Leuchtfischschuhen. Ich ahne, dass dort ein Problem versteckt ist. Ich ahne es einfach. Ich biege die Zweige zur Seite und sehe ein rundliches Mädchen, vielleicht acht Jahre alt, das Gesicht kann ich nicht erkennen, sie presst es in ihre Arme, die sie um ihre Knie geschlungen hat. Traurigkeit steigt von ihr hoch. Verzweiflung. Wut. Eine dunkle Mischung.

«Kann ich dir helfen?», frage ich leise. Die Kleine schaut nicht auf, aber ich lasse nicht locker. «Wenn du rückst, kann ich mich hier auch eine Weile verstecken. Das wäre schön», sage ich. Sie rückt tatsächlich ein wenig zur Seite. Ich pfeife auf meine helle Hose, gehe in die Hocke und nehme mühsam auf dem Boden Platz. Bei solchen Aktionen spüre ich das verflixte Alter.
Wir schweigen. Da hebt sie den Kopf. Ihre Augen sind dunkel vor Kummer. Oder ist es Zorn? Oder beides zugleich? Was kann passiert sein? In ihren leuchtend grünen Schuhen stecken runde, stämmige Beine. Sie hat eine viel zu stramme rote Latzhose an und ein leuchtend gelbes T-Shirt. Sie liebt wohl Farben. Ich auch. Zur hellen Hose trage ich eine wild gemusterte, asiatisch anmutende Bluse. Sie schaut zu mir hoch. Ich lächle in ihr Kummergesicht. Sie schaut ernst in meine Augen.
«Wieso willst du dich verstecken?», fragt sie. Shit, denke ich, jetzt hat sie mich erwischt. Was sage ich bloß, um nicht voll zu lügen? «Hm», sage ich zögerlich, «manchmal will ich bloß meine Ruhe, dann sollen mich alle in Ruhe lassen, weißt du?» Sie nickt heftig. Ich wage es und frage: «Und warum hast du dich hier versteckt?» Sie legt den Kopf wieder auf die Knie.

Überlegt sie, ob man mir Probleme anvertrauen kann? Man kann. Ich weiß das, aber weiß sie das auch? «Sie schubsen mich immer herum», flüstert sie, «weil … weil ich so dick bin. Sie schreien Plumpskuh und …» Sie stockt. «Und jetzt rufen sie immer: fetter Wal!» – «Oje», sage ich leise. «Das ist eine echte Gemeinheit. Mich haben sie früher immer Wanze genannt. Das war so richtig eklig.» – «Warum?», flüstert das Mädchen. «Ich war immer die Allerkleinste», antworte ich. «Immer. Und Wanzen sind auch klein. Und sie sind wirklich eklig. Da hast du mehr Glück.» – «Wieso?», fragt sie. «Na ja, weißt du überhaupt, was für ein wunderbares Tier ein Wal ist? Er ist groß und mächtig, er ist ein Schwimm- und Springkünstler, er ist liebevoll zu seinen Kindern, er macht die allerwundersamsten Töne, die du dir nur vorstellen kannst. Er singt und kann mit seinen Freunden sprechen, die ganz weit weg sind.
Warte mal», sage ich, «ich zeig dir was.» Ich krame nach meinem Handy, wie gut, dass ich seit einiger Zeit ein Smartphone habe, ich habe ruckzuck eine Walmutter und ihr Kind auf dem Bildschirm?und ergänze meine Informationen. Sie staunt – ich staune. Welch großartige Geschöpfe! «Weißt du was?», sage ich. «Immer wenn sie dicker Wal zu dir sagen, dann solltest du dich so groß und mächtig und wunderbar fühlen wie ein echter Wal. Die dich ärgern wollen, haben doch keine Ahnung, das sind richtige Blödaffen.» Da nickt sie. «Wanze ist schlimmer», sage ich, «das kannst du mir glauben.» – «Kannst du mir eine Wanze zeigen?», fragt sie. Ich schlucke, aber ich google sie. Wir beugen uns übers Bild. Da nimmt sie meine Hand. «Wal ist besser», sagt sie. Ich nicke. «Da hast du Glück», sage ich. Jetzt nickt sie.