Brigitte Werner

Dona la Pace

Nr 215 | November 2017

Dieser überraschende Job für zehn Tage war ein wirkliches Geschenk. Aufregend und dazu noch gut bezahlt – und er würde meine miese Finanzlage kurzfristig retten. Leider musste ich dabei meistens mit einem Auto durch die Gegend fahren, auch durch das quirlige Düsseldorf, und Autofahren hat noch nie zu meinen Lieblingsbeschäftigungen gehört.
Aber dieses Auto war ein Traum. Eine teure, große, lässige Limousine, die irgendwie schnurrte, selbst wenn ich mal wieder den falschen Gang erwischte. Sie fuhr fast lautlos und so viel selbstsicherer als ich, dass ich noch mehr Komplexe bekam. Auch die drei sehr alten Herren, die ich von der Landeshauptstadt zu verschiedenen Ortsgesprächen, Führungen und Besichtigungen fahren sollte, liebten diese «Kutsche». Jeden Morgen, wenn ich sie vom Hotel abholte, standen sie schon erwartungsvoll davor. Sie prüften den schwarzen Lack, strichen bewundernd darüber, lobten mich, dass kein Schmutzfleck darauf zu finden war (das gehörte auch zu meinen Aufgaben …) und stiegen ein. Immer in einem tadellosen Anzug, weißem Hemd und Krawatte.
Alle drei waren sie im Zweiten Weltkrieg in Dachau im KZ gewesen. Jetzt lebten sie in Israel. Man hatte sie damals zum 40. Jahrestag des Kriegsendes nach Deutschland einge­laden. Ich war noch jung, und völlig selbstverständlich hofierten sie mich nach Strich und Faden. Sie flirteten, was das Zeug hielt, und brachten mich viele Male in Verlegenheit. Immer, wenn ich sie abholte, standen sie dicht zusammen und hatten noch etwas Geheimes zu klären. Ich wartete. Irgendwann waren sie damit fertig. Einer stieg vorne ein, die beiden anderen saßen artig auf der Rückbank. Immer erst einmal ein bisschen mürrisch, aber meistens schon drei Straßen weiter bestens gelaunt.
Es dauerte noch ein, zwei Tage, bis ich verstand, was da vor der Hoteltür ablief. Sie spielten «Schnick – Schnack – Schnuck», um zu klären, wer bei mir vorne sitzen durfte.
Das rührte mich, aber ich verbannte sie dennoch alle drei auf die Rückbank. Schluss damit. Da saßen sie zuerst etwas verschämt, als sie aber erfuhren, dass ich jiddische Lieder kenne und überhaupt das Jiddische sehr mag, kamen sie in Fahrt. Sie sangen mir ein Lied nach dem anderen vor. Mein Lieblingslied war jenes über einen Rabbi, der allerhand Sachen machte, meistens schlafen und dabei schnarchen, und das machten sie pantomimisch so ernsthaft und komisch vor, dass ich im Verkehr höllisch aufpassen musste.
Dann kam der Tag, an dem ein Fernsehteam sie zu ihrer Zeit im KZ interviewen wollte. Ich fuhr sie zum Studio, und sie saßen an diesem Tag schweigend auf dem Rücksitz. Im Studio baten sie unisono darum, dass ich bei der Aufnahme dabei sein sollte – sozu­sagen in ihrem Blickfeld. Ich nickte beklommen. Die Schein­werfer leuchteten auf, die erste Frage wurde gestellt und es gab – keine Antwort. Das Gesicht von Aaron versteinerte sich, die Lippen waren hart zusammengepresst, dann sah ich die Tränen. Die Kamera sah sie auch. Sie wollte mehr davon. Ich stand auf, lief ins Bild und nahm Aaron in den Arm. Keiner der drei Männer war in der Lage, dieses Interview durchzustehen.
Ich fuhr sie zu ihrem Hotel zurück. Wir waren alle verstummt. Eine dunkle, schwere Wolke hing in unserem Auto. Plötzlich fiel ein Lied in meinen leeren Kopf und ich sang es halblaut wie ein Mantra vor mich hin. Ein Taizé-Lied, das mich schon in manch schwerer Zeit beruhigt hatte: Dona la pace Signore a chi confida in te, Dona la pace Signore, Dona la pace Signore … (Gib Frieden, Herr, dem, der dir vertraut …)
Es ist nur eine Zeile, die immerzu wiederholt wird. Und geradezu magische Heilwirkung hat. Die drei Herren auf der Rückbank richteten sich auf, fast gleichzeitig. Ich weiß nicht, ob sie Italienisch konnten, aber der Begriff la pace war ihnen vertraut und die Melodie war ein Klacks für sie. Wir sangen diese eine Zeile bis zu ihrem Hotel viele, viele Male. Wieder und immer wieder. Sie hat geholfen. Beim Abschied umarmten wir uns lange. Unser Herz schlug nun ruhiger.