Christa Ludwig

Das Zauberwort

Nr 220 | April 2018

Auch Lieblingszitate können irren. Und die Welt hebt an zu singen / Trifft du nur das Zauberwort? Ach, guter, alter, hochgeschätzter Eichendorff, habt Ihr, Freiherr, denn nicht gehört, dass die Welt unablässig singt? Denn das Zauberwort ist trilliardenweise getroffen und wird milliardenfach weiterhin täglich ge­troffen, erschossen, durchlöchert, durchbohrt, aufgespießt vom Pfeil eines kleinen dicken geflügelten Jungen, dessen kindliches Kichern jedem mal in den Ohren klang und der in ewiger Vorpubertät niemals begreifen wird, was er da anrichtet.
Da gerade wieder Frühling ist, trifft er das Zauberwort mit zielgenauer Präzision. Die gelben Blumen am Wegrand sind wahrhaftige Himmelsschlüssel, sie schließen die Himmel auf. Die Himmel, nicht den, denn sie begnügen sich nicht mit dem ersten, zweiten, dritten – sie öffnen den siebten, und der hängt – das ist nachgewiesen – voller Geigen. Und dann kommen auch schon diese Schmetterlinge und imitieren mit ihrem Flügelschlag dieses flatternde Gefühl im Bauch. Spätestens jetzt hat es sich überflüssig gemacht, das Zauberwort, es kann ausgetauscht werden durch ein buchstabenloses Symbol: das Herz. Es ist so präsent, dass es nicht mehr gebraucht wird.

In der Geschichte vom Nichts des österreichischen Schriftstellers Peter Glaser, die noch vor der Zeit der Flatrates spielt, schickt sich ein über tausende von Kilometern getrenntes Paar, täglich die kostengünstigste Version des Zauberwortes: eine SMS mit drei Leerzeichen. Drei müssen es sein, dann gibt es keine Zweifel, denn das Zauberwort kommt nicht allein daher, es ist umgeben, umringt, umschlossen, umtanzt, umflattert von dem uralten Reimpaar ich und dich.
Doch manchmal wird’s ein böser Zauber. Dann greift es sie an, seine treuen Begleiter, macht sie zu Knechten, hilflosen Sklaven, und im schlimmsten Fall zersetzt es das «d» von dich – und übrig bleibt nur ich, nur ichichich, doch weiter singt die Welt, singt Klagelieder nun bei Tag und bei Nacht. Wie lange? Nur eine Ewigkeit. Und es reißt dich – wen? Ja, da ist es wieder dich – aus dem Zu-Tode-Betrübtsein an den ein­zigen anderen Ort, den das Zauberwort kennt: in das siebt-himmelhohe Jauchzen. Dazwischen ist nichts.
Was aber geschähe, wenn man das Zauberwort aus der Klammer des ich und dich befreite? Wenn man es von der Euphorie erlöste? Ihm Gelassenheit und Alltäglich­keit gäbe? Das sei hier nur als Frage gestellt und um die notwendig folgende Frage ergänzt: Ob es dann noch dasselbe Wort wäre? Denselben Zauber hätte? Oder keinen? Oder mehr davon? Oder keinen Zauber mehr nötig habe? Aber hier soll nicht weiter gefragt werden – es würde ans Ende aller Fragen führen, an den Beginn der Antwort.
Bleiben wir daher beim fraglichen Zauberwort, das eingeschnitten in Baumstämme und Parkbänke oft dauerhafter ist als in der Lebenswirklichkeit seiner Ichs und Dichs und das seit einigen Jahren eingeritzt in Vorhängeschlösser nun Brückengeländer zum Einstürzen bringt. Brücken!!! Haltet ein! Was tut ihr da? Ohne Brücken sind sie doch wieder getrennt, die beiden unglücklichen Königskinder! Die konnten zusammen nicht kommen, denn das Wasser war viel zu tief, und sie versuchten es doch und darum sind sie … Ach, wenn sie auch gestorben sind, lebt doch das Zauberwort noch heute.