Christa Ludwig

Zum Hören geboren

Nr 223 | Juli 2018

Kann es denn wahr sein, dass drei junge Männer die Gallionsfigur deutscher Weisheit von ihrer heiligen Säule stoßen? Und das gelingt ihnen, weil sie drei Affen nachahmen, die einen äußerst schlechten Ruf haben. Personen und Darsteller in diesem Drama: Der Säulenheilige – Goethe, der im zweiten Teil seines Faust erkannte: «Der Mensch ist zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt.» – Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen – die drei Affen. Drei Männer – Bart Bouman, David Stumpp und Jakob von Gizycki.
Im Sommer 2014 verwandelten die Letzteren die oft edel in Bronze gegossene Affenplastik der Verweigerung jeglicher Teilnahme an der Welt in ein Konzept für Wahrnehmung von Miteinander und Selbsterfahrung. Sie wanderten und fuhren vom Bodensee zum Atlantik, einer trug eine Augenbinde, einer Ohrenkapseln und einer durfte nicht sprechen. Nach jeweils einer Woche wechselten sie das Handicap. Sie wurden begleitet von einem Kamerateam, daraus entstand der Film: Drei von Sinnen.
Ihre Erfahrungen sind reichhaltig, heraus­ragend diese: Keiner von ihnen hatte an der goethischen Weisheit gezweifelt, alle hatten angenommen, dass Blindsein der schwierigste Zustand sein würde, aber «am schwierigsten war es, auf das Hören zu verzichten», sagt Bart Boumann. Und David Stumpp ergänzt: «Meine Erfahrung war, dass man sich von anderen Menschen zurückzieht, wenn man sie nicht hören kann. Das war für mich emotional am schwierigsten.» (Zitiert aus der Badischen Zeitung)

Müssen wir also umformulieren in: «Der Mensch ist zum Hören geboren, zum Lauschen bestellt?» Kann das wahr sein? Ungefähr 80 Prozent der Informationen nehmen wir über das Auge wahr. Warum waren die übrigen 20 Prozent den Drei von Sinnen wider Erwarten kostbarer?
Sprache – das ist es, was dem Menschen verlorengeht, wenn er nicht hören kann. Und wenn Sprache dem Menschen nicht auf andere Weise als durch Hören vermittelt wird, dann ist er elementar behindert in seiner Entwicklung zum Menschsein.
Im alten Griechenland waren Blinde oft Propheten und Dichter – am bekanntesten Theiresias, der blinde Seher, und Homer, der blinde Sänger. Ihre Behinderung wurde ausgeglichen, mehr als das, sie wurde überhöht durch eine Gabe.
Der Gehörlose aber war taub, und dieses Wort bedeutet auch leer, nutzlos, gefühllos. Im Englischen heißt gehörlos deaf und das entspricht unserem Wort doof. Und als genau das wurden Gehörlose bis ins 18. Jahrhundert hinein angesehen, sie galten als dumm, als teilnahmslose Belastung der Gesellschaft. Wehren konnten sie sich nicht. Wie denn? Da sie niemals Sprache gehört hatten, konnten sie natürlich auch nicht sprechen. Und da ihnen die über Sprache vermittelte Entwicklung verschlossen war, waren sie in der Weiterbildung ihrer Intelligenz behindert – ein Teufelskreis. Der wurde gegen Endes des 18. Jahrhunderts aufgebrochen, als in Paris eine Schule für Gehörlose entstand. Sie befreite die Gehörlosen aus ihrer Isolation und die Hörenden von einem jahrtausendealten Irrtum: nicht der Verlust des Gehörs macht teilnahmslos und schränkt die Intelligenzentwicklung ein, sondern der Verlust der Sprache.
Als David Stumpp bei den Drei von Sinnen auf das Hören verzichten musste, durfte er sprechen, er konnte fragen und seine Wünsche äußern. Sein auf diesem Wegabschnitt stummer Freund konnte das nicht, trotzdem fühlte der sich weniger eingeschränkt. Es ist das Dem-anderen-Zuhören, was der Mensch so dringend braucht.
Dies aber ist wiederum etwas, das den Gehörlosen nicht zugänglich ist. Bleiben sie also doch von Sprache ausgeschlossen? Nein! Denn sie haben in den letzten 150 Jahren der Welt eine neue Sprache geschenkt. Aber das ist ein anderes Kapitel und soll in der nächsten Ausgabe dieses Magazins erzählt werden.