Christa Ludwig

Leichte Antwort auf eine schwierige Frage

Nr 228 | Dezember 2018

Die schwierige Frage: Was ist ein Gedicht? Die leichte Antwort: Wenn es sich reimt, dann ist es ein Gedicht! Und wenn es sich nicht reimt, dann ist ein modernes Gedicht!
Tja, die leichte Antwort klärt die Frage offenbar nicht. Ich hatte dieses Problem als ich ein Lyrikseminar an einer pädagogischen Hochschule gab. Ich sollte den Studierenden vermitteln, wie sie ihrerseits 16-jährigen Realschülern verständlich machen könnten, was denn nun Lyrik sei. Im Mittelpunkt des Seminars stand Else Lasker-Schüler.
Also versuchte ich es mit einem Text dieser Dichterin: Leise sagen. Inhalt dieses Gedichtes ist der Schmerz einer verlassenen Geliebten. Zeitgleich dazu schrieb sie ihren Brief­roman Mein Herz, in dem es um dasselbe Thema geht.
Nun ist Lasker-Schüler nicht gerade eine Prosaautorin – was immer sie schrieb, es neigte dazu, lyrisch zu werden. Ich habe das Gedicht also zeilenweise in einen kleinen Ausschnitt aus diesem Briefroman hineingesetzt. Die zwölf jungen Frauen und Männer im Seminar hatten die Aufgabe, Zeilen aus diesem «Prosatext» herausnehmen, die ihnen «lyrisch» erschienen und daraus ein Gedicht zu komponieren. Am Ende unserer Unterrichtsstunde hatten wir zwölf verschiedene Gedichte, von denen keines mit dem Gedicht Leise sagen identisch war, aber jedes einzelne empfanden wir als vollgültiges Gedicht.
Probieren Sie es aus! Hier ist der Ausschnitt aus dem Briefroman, darin zeilenweise verteilt das Gedicht. Angesprochen wird Herwarth Walden, mit dem Lasker-Schüler damals noch verheiratet war, er hatte sie aber schon verlassen:

Herwarth, Du nahmst Dir alle Sterne über meinem Herzen.
Ich gehe jetzt seltener ins Café, ich kann es nun auswendig. Es ist ja nicht allzu schwer zu lernen; internationale Cafés sind schwerer zu behalten. Ich plaudere wieder so vor mich hin wie Verblühn. Meine Gedanken kräuseln sich, ich muß tanzen. Ich habe alles abgegeben der Zeit, wie ein voreiliger Asket, nun nimmt der Wind noch meine letzten herbstge­färbten Worte mit sich. Bald bin ich ganz leer, ganz weiß, Schnee, der in Asien fiel. So hat nie die Erde gefroren, wie ich friere; woran kann ich noch sterben! Immer tust du das, was mich aufschauen läßt, mein Leben zu müden. Ich bin verweht und vergangen, aus meinem Gebein kann man keinen Tempel mehr bauen. Ich kann den Abend nicht mehr über die Hecken tragen. Kaum erinnerte ich mich noch an mich, wenn mir nicht alle ins Gesicht pfiffen. Im Spiegel der Bäche finde ich mein Bild nicht mehr. O, du Welt, du Irrgarten, ich mag nicht mehr deinen Duft, er nährt falsche Träume groß. Du entpuppte Weltsagerin, ich habe dir die Maske vom Gesicht gerissen. Was soll ich noch hier unten, daran kein Stern hängt. Herwarth, dem Erzengel hast Du die schwebenden Augen gestohlen; aber ich nasche vom Seim ihrer Bläue.
Ich bin nun ganz auf meine Seele ange­wiesen, und habe mit Zagen meine Küste betreten. So viel Wildnis! Ich werde selbst von mir aufgefressen werden. Ich feiere blutige Götzenfeste, trage böse Tiermasken und tanze mit Menschen­knochen, mit Euren Schenkeln. Ich muß Geduld haben. Ich habe Geduld mit mir.
Herwarth, mein Herz geht langsam unter, ich weiß nicht wo – vielleicht in Deiner Hand. Überall greift sie an mein Gewebe


Und wenn Sie nun daraus Gedichte komponieren, so werden Sie vielleicht immer noch nicht erklären können, was ein paar Worte zu Lyrik werden lässt, aber Sie haben es erkannt.