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Ben Guterson

Winterhaus

Nr 229 | Januar 2019

gelesen von Simone Lambert

Die elfjährige Elizabeth Somers ist Vollwaise und bei entfernten, armen Verwandten das ungeliebte Kind im Haus. Als Tante Purdy und Onkel Burlap verreisen, schicken sie Elizabeth ins Hotel Winterhaus, anderthalb Tagesreisen mit Bahn und Bus entfernt. Sie gelangt in ein großes, elegantes Haus, familiär geführt von dem sympathischen Norbridge Falls, der seine Gäste mit Zauberkunststückchen unterhält, und seinem freundlichen Personal, das sich aufmerksam und liebevoll um das allein reisende Kind kümmern.
Elizabeth erwartet eine glückliche Zeit in einem gemütlichen Zimmer, bei gutem Essen, in der wunderschönen winterlichen Umgebung und in der riesigen Bibliothek. Und sie findet einen Freund, Freddy, auch er ist ohne Eltern hier. Die beiden verbindet die Vorliebe für Bücher, Sprache und Wortspiele.
Aber es ist auch ein unheimliches Paar unter den Gästen, das sich sehr für Elizabeth interessiert. Die schwarzgekleideten Hiems reisen mit einem Sarg und suchen nach einem bestimmten Buch. Etwa jenem, das Elizabeth unerlaubterweise entliehen hat? Es enthält das Vigenère-Quadrat, die Chiffre für eine Geheimschrift. Lässt sich damit die mysteriöse Inschrift auf einem der Ahnengemälde übersetzen? Doch wie lautet das Codewort? Elizabeth ist mutig und hart­näckig und ihre gesunde Skepsis vor den Erwachsenen verschafft ihr einen leichten Vorsprung in dem Geschehen, das zwischen Weihnachten und Neujahr die Kinder und Norbridge Falls in Atem hält. Sie kommt einem Rätsel auf die Spur, das mit einer dunklen Geschichte aus der Vergangenheit des Winterhauses verbunden ist, und gerät dabei selbst in Gefahr …

Ben Guterson verbindet in seinem Debüt Elemente aus Märchen, Kriminal­roman und Gespenstergeschichte zu einem überraschenden und spannenden Plot, der die fantastische Welt und die Realität verquickt. Die Waise Elizabeth ist nicht einfach ein Aschenputtel, dem ein ausgleichendes Wunder widerfährt, sondern sie findet im Winterhaus die Freiheit, ein Abenteuer zu erleben und sich für einen eigenen Weg zu entscheiden. Dazu gehört die Erfahrung, welche Verführungskraft von Macht und dem Gefühl von Wichtigkeit ausgeht.
Winterhaus erscheint als der Platz, an dem Lebensfreude und Kreativität zuhause sind – wie geschaffen, menschliche Bedürfnisse zu nähren. Hier wird die Fülle gelebt. Aber hier lernt Elizabeth auch, mit den Unfreundlichkeiten des Daseins zurecht­zukommen, damit das Gute überlebt. Die Menschen gehen gut miteinander um im Winterhaus und tolerieren die Schwächen des anderen. Der Debütroman von Guterson ist ein tiefgründiger Versuch über Glück und Unglück, Gut und Böse im Menschenleben – und welchen Gesetzen dieses Wechselspiel unterliegt. Das Buch ist ein Plädoyer für den Versuch, sein Leben so zu gestalten, dass man glücklich werden kann. Mit dieser seelen­vollen Haltung hat es mich an die späten Kinderromane der wunderbaren Eva Ibbotson erinnert.
Winterhaus als Buch ist liebevoll aufgemacht mit Lesebändchen und Cutouts im Schutzumschlag, die Fenstereinblicke in das abgebildete Hotel erlauben. Die humor­vollen Illustrationen von Chloe Bristol schauen dem Märchenhaften und dem Grusel direkt ins Gesicht und halten so eine gewisse entschärfende Distanz zu beidem. Ben Guterson hat eine wunderbare Geschichte erzählt – und die ist schon ziemlich gut.