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Christian Schopper

Sensibel, aber unzerstörbar

Nr 229 | Januar 2019

Ist Heilung von seelischen Wunden, von seelen-­traumatischen Verletzungen und posttrau­matischen Belastungsstörungen möglich?
Ist selbst nach Extremtraumatisierungen, massivem seelischem Leiden und furchtbaren Erlebnissen Genesung wieder möglich, kann der Betroffene ein «normales» Leben führen, kann er wieder eine gesunde Beziehungs­fähigkeit entwickeln?
Es gibt immer wieder Menschen, die trotz widrigster Umstände gesund, leistungsfähig und sogar vorbildhaft weiterwirken können. Bekannte Beispiele hierfür sind Nelson Mandela, Václav Havel oder Viktor Frankl. Diese Menschen konnten Extremtraumatisierungen in Fähigkeiten verwandeln und ein höheres Bewusstsein mit großer Ausstrahlung und Wirksamkeit entwickeln. Auch die Forschungen von Aaron Anto­novsky, Professor für Soziologie und «Vater der Salutogenese», zeigen auf, dass eine ausschließliche Konzentration auf die Pathologie eines Traumas nicht weiterhilft und wir völlig andere Gesichtspunkte hinzunehmen müssen, die in folgenden Fragen zum Ausdruck kommen: Was hält den Menschen gesund? Was macht ihn gesund? Welche innerpsychischen Dimensionen können wie ein seelisch-geistiges Immunsystem wirken, sodass wir sogar stärkste Traumata so verarbeiten können, dass es nicht zu einer Folgestörung kommt, sondern zu innerem Wachstum, Transfor­mation und tiefer, an­haltender Gesundung? Traumata, die von Menschen verursacht wurden, gehen mit einer engen Verstrickung zwischen Täter und Opfer, zwischen Trauma-Betroffenem und Gewaltausübendem einher. Die verschiedenen Wesen verweben sich tief miteinander.
In vielen archaischen Kulturen, aber auch im Buddhismus und im Christentum sind Aspekte der Versöhnung ein zentraler Gesichtspunkt im Hinblick auf Trauma und Traumaverarbeitung. Dies ist nicht oberflächlich zu sehen. Versöhnung ist schwierig, bedarf oft langer therapeutischer Bemühungen und kann keinesfalls am Anfang einer Therapie traumatischer Erfahrungen stehen. Dies zeigt sich auch in der schwierigen Aufarbeitung des Holocaust und der Identitätssuche des jüdischen Volkes nach dem Nationalsozialismus oder nach dem Genozid der Hutus an den Tutsis in Ruanda. Doch sind in allen diesen Fällen Versöhnungsrituale ganz entscheidend, bei denen es tatsächlich zu einer Annäherung kommt.
Eine der Urgesten des Christentums, das Verzeihen, scheint mir eine zentrale Instanz einer wirklich gelungenen Trauma-Arbeit zu sein. Insbesondere führt sie dazu, dass kein Hass, kein Hader und keine Bitterkeit mehr übrig bleibt und die Sinnlosigkeit, das Eingefroren- und Verhaftetsein in und an den schreck­lichen Erfahrungen ohne Zukunft und Perspektive, wie es so viele Traumatisierte leider erleben müssen, aufgelöst werden können.
Nelson Mandela, der die Größe hatte, seinen Peinigern zu verzeihen, der Südafrika vor einer Welle von Krieg und Gewalt bewahrte, indem es ihm gelang, die Dämonen der Folter, der Haft zu besiegen und in all seinem Tun auf Versöhnung hinzuarbeiten, hat seine Kraft aus der Unzerstörbarkeit des Ich geschöpft, wovon sein Leben als Präsident ein beredtes Zeugnis ablegt.
Aaron Antonovsky hat dies einmal folgendermaßen formuliert und mit diesem Gedanken zugleich ein wesentliches Fundament der therapeutischen Arbeit beschrieben: «Das Ich ist sensibel, verletzlich, aber unzerstörbar.»