Marie Rosenkranz im Gespräch mit Maria A. Kafitz

Es geht um nichts Geringeres als unsere Zukunft

Nr 232 | April 2019

«Die Zeit ist aus den Fugen», lässt schon William Shakespeare seinen Hamlet sagen. «Die Welt ist aus den Fugen», könnte man in Anlehnung daran angesichts mancher Entwicklungen ausrufen, auch hier in Europa. Und doch – während die Zeit unaufhaltsam voranschreitet, kann die Welt, kann unsere Wirklichkeit täglich gestaltet werden. Zumindest können wir es versuchen. Versuche vielfältiger Art werden im «European Democracy Lab» (www.europeandemocracylab.org) in Berlin angeregt und kreiert, um durch die Verbindung von Forschung, Aktivismus und Kultur die Demokratie in Europa zu stärken und zukunftsfähig zu machen. Für Marie Rosenkranz, die dort als Projektmanagerin tätig ist, war schon früh klar, dass sie sich gesellschaftlich und politisch engagieren will – nein: muss, denn schließlich geht es für ihre Generation um mehr als eine gute Gegenwart.

Maria A. Kafitz | Liebe Marie Rosenkranz, es scheint sich zu etablieren, dass zahlreiche, auch junge Menschen wieder auf die Straßen gehen, die Stimme erheben, sich einmischen und dabei festgefahrene Vorstellungen auf­mischen. Doch bevor wir zu Ihrer Form des «einmischenden Engagements» kommen, würde ich gerne wissen: Wo kommen Sie her? Und mehr noch: Wo wollen Sie hin?
Marie Rosenkranz | Schon räumlich habe ich eine gewisse «Vorprägung», denn ich bin im Dreiländereck Niederlande – Deutschland – Belgien aufgewachsen. Ich bin also mit der Selbstverständlichkeit groß geworden, dass man sowohl in Brüssel als auch in Maastricht und in Aachen seine ersten Stadterfahrungen macht und täglich über Grenzen läuft, die eigentlich keine sind. In der Nähe von Aachen bin ich zur Schule gegangen, habe dann in Maastricht, Granada und Friedrichshafen studiert. Kommunikation, Kultur­management und Europawissenschaften habe ich als Fächer gewählt, weil ich mich einerseits politisch bilden wollte und andererseits vor allem an die Kultur als verändernde Kraft glaube. Während meines Studiums sind viele politische Ereignisse passiert – von Occupy Wall Street bis Arabischer Frühling, von Brexit bis Trump –, sodass ich mich danach als Erstes politisch engagieren wollte. Mir war klar: Ich kann nicht stillsitzen und so tun, als gäbe es das alles nicht. Zu den klassischen Parteien habe ich mich erst mal nicht hingezogen gefühlt. Die Themen, die mich bewegt haben, waren global, und ich wollte direkt mitmischen. So bin ich bei Polis180 gelandet, einem Thinktank für Außen- und Europa­politik, bei dem ich 2017 die Kampagne «Demokratie braucht Dich!» co-leiten durfte.

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Fotos: © Wolfgang Schmidt | www.wolfgang-schmidt-foto.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

MAK | In der Tat – Demokratie braucht jede und jeden. Bemerkenswert finde ich in diesem Zusammenhang, dass in jüngerer Zeit Initiativen entstanden sind, die nicht nur demonstrieren, weil ihnen etwas nicht passt, weil sie gegen etwas sind, sondern die für eine Idee aufstehen. Pulse of Europe etwa, die für Europa eintreten und auf den Plätzen informieren, debattieren und sich leidenschaftlich engagieren. Oder Volt, eine neue und explizit proeuropäische Partei aus jungen Leuten, die sich europaweit vernetzt, weil sie Politik jenseits der Ländergrenzen gestalten will. Was halten Sie von diesem «konstruktiven Protest»?
MR | Ich glaube, Protest hat heute kein klares Gegenüber. Es gibt in der Geschichte viele Beispiele, wo ganz offensichtlich war, wo­gegen man sich wenden konnte und mit welchen Mitteln. Heute ist es komplexer und man muss sich viel konstruktiver beteiligen. Das ist natürlich auch eine höhere Hürde. Aber dass man sich aus Protest für Europa einsetzt – das ist, glaube ich, neu. Und es ist wichtig! Das hat vor allem der Aufwach­moment Brexit gezeigt: Man kann der Sache nicht einfach nur unbeteiligt beiwohnen, weil sonst eine sicher geglaubte Selbstverständlichkeit auch verloren gehen kann. Vor allem junge Leute, von denen viel weniger beim Referendum 2016 wählen gegangen sind, haben sozusagen im Rückwärtsgang erfahren müssen, dass politische Beteiligung doch einen Unterschied macht. Dabei ist, so mein Eindruck, paradoxerweise auch ein Gefühl der Solidarität unter jungen Euro­päerinnen und Europäern entstanden. Ich glaube, wir haben uns zu sehr in Sicherheit gewähnt, dass alles irgendwie einfach immer so weitergeht mit der angedachten euro­päischen Integration vom Binnenmarkt hin zu einer immer engeren Union. Aber das war vielleicht zu bequem. Dem Zustand der Demokratie und der sozialen Spaltung Europas wurde viel zu wenig Beachtung geschenkt.

MAK | Sie haben die Kampagne «Demokratie braucht Dich!» erwähnt. Werden wir etwas kon­kreter: Warum geben Sie Ihre Stimme bei der Europa­wahl am 26. Mai ab?
MR | Dazu muss ich kurz etwas zum European Democracy Lab sagen: Mit der europäischen Republik fordern wir eine europäische Demokratie. Das heißt, in Europa sollten wir nicht nur einen Markt und eine Währung teilen, sondern auch eine gemeinsame Demokratie. Es muss ein starkes Parlament geben, das alle Bürgerinnen und Bürger vertritt – damit deren Stimme so viel zählt, wie sie wert ist. Das Parlament hat bislang nicht die Macht, die es haben sollte. Trotzdem ist es der zentrale Ort, an dem Demokratie auf europäischer Ebene stattfindet, weshalb man sich dort unbedingt beteiligen muss. Ich wähle auch deswegen, weil sonst vor allem die Europakritiker zur Wahl gehen. Es ist ja so, dass sich die extremen Kräfte immer stärker durchsetzen. Jemand mit Wut im Bauch – woher auch immer sie kommt oder wie begründet oder unbegründet sie sei – geht eher wählen als jemand, der nur so ein Grundgefühl hat, dass Europa eigentlich eine gute Sache ist. Deshalb ist zu erwarten, dass nach dieser Europawahl noch mehr Europagegner im Parlament sitzen und dass wir dann erstens ein handlungsunfähiges Parlament – ein paradoxes Parlament – haben, und zweitens auch eines, das die Bevölkerung nicht repräsentiert. Die Grundstimmung in Europa ist proeuropäisch, das zeigen auch die Umfragen des Europa-Barometers. Es gibt bei vielen Menschen den Wunsch, ein geeintes Europa nicht nur zu erhalten, sondern sogar zu stärken. Dem muss man aber auch durch das Wählen Ausdruck verleihen, sonst regieren nationale Regierungen weiter an Europa vorbei. Es geht jetzt darum, Europa zu schützen!
Danach können wir darüber reden, was besser gemacht werden muss. Aber wenn wir schon vorher das Parlament den Nationalisten überlassen …

MAK | … dann werden wir gestaltet.
MR | Ja, dann überlassen wir die Gestaltung denjenigen, die Europa gar nicht wollen. Das kann ja nur schiefgehen.

MAK | Sie arbeiten und experimentieren im European Democracy Lab, das von Ulrike Guérot gegründet wurde, ja genau an und mit diesen Zukunftsfragen. Was ist das für ein «europäisches Labor», in dem Demokratie erforscht wird? Oder ist Europa das Labor?
MR | Das European Democracy Lab ist eine kleine Gruppe von Menschen, die Europa neu denken und gestalten will. Wir arbeiten mit den Säulen Forschung, Kultur und Aktivismus, d.h. wir beobachten den politischen Diskurs über Europa und formulieren neue Zukunftsentwürfe, die wir bei Veran­staltungen und Kunstprojekten öffentlich zur Debatte stellen. Unser Vorschlag ist die Europäische Republik – eine gemeinsame europäische Demokratie mit starken Städten und Regionen und den gleichen sozialen und politischen Rechten für alle, ob Portugiesen oder Deutsche, ob Slowenen oder Finnen. Im Moment gibt es da noch gravierende Unterschiede und Ungerechtigkeiten. Es geht nicht um Gleichmacherei, sondern um das, was Europa verspricht, aber als Union von Nationalstaaten vielleicht nicht halten kann: Einheit in Vielfalt. Ich bin außerdem davon überzeugt, dass man seine Politisierung lokal erfährt, das heißt, dass man in seinem Kiez, in seiner Stadt, in seiner Region die ersten politischen Erfahrungen macht und man gleichzeitig von ganz großen globalen Herausforderungen betroffen ist. Wenn man die kleineren Einheiten auf einer europäischen oder auch globalen Ebene besser vernetzt, ist Europa vielleicht weniger fern und abstrakt.

MAK | Um aus dem Abstrakten stärker ins Erleben zu kommen, gibt es inzwischen ja einige Ansätze: In Irland beispielsweise werden seit ein paar Jahren 99 Menschen per Zufallsgenerator ausgelost, die in Regionalparlamenten Themen diskutieren, darüber abstimmen und diese dann als politischen Auftrag an die gewählten Abgeordneten übergeben. Welche Spielarten müssten noch erfunden werden, um die Lust an der Demokratie zu stärken?
MR | Es gibt im Moment eine große Debatte über demokratische Innovation. Wie kann man die Demokratie, an der ja im Moment einige zweifeln, erneuern? Losverfahren oder andere Bürgerbeteiligungsformate gehören zu den vielen Vorschlägen, die zur Debatte stehen. Experimente zur Form der Demokratie können dabei helfen, die vielen guten Köpfe einer Gesellschaft zu beteiligen. Ich bin überzeugt und merke das in den vielen Gesprächen und bei Veranstaltungen: viele Bürgerinnen und Bürger sind sowohl politisch gebildet als auch interessiert, und man kann Menschen viel mehr Komplexität zumuten, als es die Regierungen und die Medienlandschaft gerade tun.

MAK | Werden wir im politischen Diskurs unterschätzt?
MR | Ja, extrem! Deswegen sollte es auch jetzt vor den Europawahlen nicht darum gehen, Europa zu erklären. Ich glaube, es ist viel mehr Wissen da, als manchmal propagiert wird. Jetzt geht es darum, den Menschen gute und glaubwürdige politische Angebote zu machen. Die Parteien müssen echte Debatten führen und echte Alter­nativen diskutieren – auch mal mutige Visionen wie eine europäische Arbeits­losenversicherung oder ein europäisches Vereinsrecht. Ich finde es wichtig, Beteiligung nicht mit diesem Unterton einzu­fordern: «Ihr seid doch alle uninteressiert!», sondern aus der Überzeugung: «Es geht um etwas, und zwar um unsere gemeinsame Zukunft – und die könnte so oder so aussehen.»

MAK | Im Idealfall würde man sich also nicht aus Angst vor Trump & Co. für die euro­päische Zukunft engagieren, sondern weil man von der Idee eines friedlichen und grenzenlosen Lebens auf diesem Kontinent überzeugt, vielleicht sogar begeistert ist. Was wünschen Sie sich für die gemeinsame Zukunft?
MR | Ich glaube, Europa hängt an einem seidenen Faden, da sich viele abwenden, die in Zukunft eigentlich davon profitieren könnten. Europa muss dafür stehen, dass Ungleichheiten und soziale Ungerechtig­keit überwunden werden. Vielleicht ist das die neue Bedeutung des viel beschworenen Satzes «Europa ist ein Friedensprojekt». Mit diesem Wunsch hängt aber auch gleich mein nächster direkt zusammen: wie sich Europa in der Welt verhält. Für mich ist Europa deswegen so spannend, weil es auch Vor­reiter sein könnte in der Hinsicht, dass man mit anderen teilt, wirklich am Gemeinwohl arbeitet und Grenzen überwindet. Das klingt zwar ziemlich klischeehaft, aber letztendlich bleibt es das, wofür es sich zu kämpfen lohnt: das Experiment der Gemeinschaft. Ulrike Guérot fordert immer: «Denken ohne Geländer» – sie bezieht sich da auf Hannah Arendt. Dieses Denken ohne Geländer schützt davor, nicht in dem stecken zu bleiben, was nicht funktioniert, sondern ermuntert dazu, mutige Visionen zu ent­wickeln. Wenn man in die Zukunft denkt – und das verstehen wir als Aufgabe des European Democracy Labs –, dann müssen wir bei der Wahl im Mai erst mal gemeinsam dafür Sorge tragen, dass die Zukunft in der Gegenwart nicht schon kaputt gemacht wird.