Albert Vinzens

1919: Vision der Sozialen Dreigliederung

Nr 232 | April 2019

Der erste Weltkrieg ist vorbei. Endlich Frieden – doch es ist keine friedliche Zeit. Im Januar 1919 herrrschen in deutschen Städten bürgerkriegsähnliche Zustände. Auseinander­setzungen zwischen politischen Lagern enden oft mit dem Tod. In Berlin werden Mitte Januar Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg umgebracht. In München trifft es Kurt Eisner. Gerade eben von Arbeitern und Soldaten zum bayerischen Ministerpräsidenten gewählt, wird er am 21. Februar auf dem Weg zum Landtag erschossen. Doch nicht nur in Berlin und München brodelt es, auch Stuttgart geht im Aufruhr unter. Die Massen streiken – und die Streiks werden blutig niedergeschlagen.
Im Frühjahr 1919 arbeitet Rudolf Steiner in der Schweiz und verfolgt genau, was in Deutschland passiert. Er ist mit den Geschehnissen dort bis ins Persönliche tief verbunden. Mit Rosa Luxemburg war er 1902 gemeinsam auf dem Podium gestanden. Und mit Kurt Eisner führte er zwei Wochen vor dessen Tod während der Internationalen Sozialistenkonferenz Anfang Februar in Bern im Hotel Bellevue noch Gespräche über die Kriegsschuldfrage.
Anthroposophische Freunde in Stuttgart bitten Steiner, dass er so schnell wie möglich in ihre Stadt komme, um zusammen mit ihnen an einer Neugestaltung des sozialen Lebens mitzuwirken. Doch vorerst bleibt er in der Schweiz und hält in Zürich, Winterthur, Basel und Bern feurige Vorträge über eine poitive Umwandlung der Gesellschaft. In diesen Vorträgen entfaltet er das Modell des dreigliedrigen sozialen Organismus. Er haucht den großen Idealen der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – neues Leben ein. Die Vorträge arbeitet er zu einer Broschüre aus. Sie wird eine seiner bestverkauften Schriften und erhält den Titel Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft. Die zügige Fertigstellung ist für ihn so wichtig, dass er die Reise nach Stuttgart um einige Wochen nach hinten verschiebt.

Parallel zur Arbeit an diesem Buch verfasst der Begründer der Anthroposophie einen Aufruf an das deutsche Volk und die Kulturwelt. Hermann Bahr und Hermann Hesse, Wilhelm Lehmbruck, Jakob Wassermann und weitere dreihundert namhafte Persönlich­keiten unterschreiben das Flugblatt, das im März 1919 überall in Deutschland, Österreich und der Schweiz verteilt und in vielen Zeitungen abgedruckt wird. Steiner nimmt den Aufruf als Schlussteil in die Kernpunkte auf.
An Ostern 1919 trifft er endlich in Stuttgart ein. Dort entfaltet der knapp Sechzigjährige eine schier unvorstellbare Aktivität. Zwei Tage nach der Ankunft findet im Stadtgartensaal eine Großveranstaltung mit ihm statt. Im Anschluss daran wird der «Bund für Dreigliederung» gegründet. Wieder zwei Tage später, am 24. April, kommen an die tausend Arbeiter von Bosch zu seinem Vortrag in den Saalbau Dinkelacker. Steiner, der sonst stundenlang mit donnernder Stimme sprechen kann, kämpft mit der Heiserkeit. Doch dadurch lässt er sich nicht beirren. In den folgenden Tagen und Wochen spricht er vor Eisenbahnern und vor den Arbeitern der großen württembergischen Firmen Daimler, Bosch, Del Monte und Voith. Er steht mit unermüdlicher Ausdauer Marathonsitzungen durch, die bis in die Morgenstunden dauern, hält Vorträge in überfüllten Sälen, stellt sich Fragerunden und Diskussionsabenden.
Zeitgleich mit dem Totaleinsatz für die Dreigliederung verhandelt Steiner mit dem württembergischen Bildungsministerium und inauguriert in Stuttgart noch in diesem Jahr eine staatlich anerkannte freie Schule. Am 8. September 1919 nimmt sie für die Kinder der Waldorf-Astoria Zigarettenfabrik den Betrieb auf. Steiner geht in allem, was er tut, an die Grenze – und oft darüber hinaus. Er mute seinem alten Organismus viel zu, schreibt er einer Freundin, der Bildhauerin Edith Maryon, nach Dornach. Er ist sich seines Kräfteverschleißes bewusst, doch er sieht nur diesen einen Weg für seine vielen Anliegen.

Ende April 1919 erscheint das Buch über die Kernpunkte der sozialen Frage. Darin skizziert er einen Ausweg aus den Wirrnissen der Zeit. Am 28. April hält er im überfüllten Sieglehaus einen Vortrag zu diesem Thema. Der große Saal ist viel zu klein, viele müssen umkehren. Kurz entschlossen druckt der «Bund für Dreigliederung», in Absprache mit Steiner, über Nacht Plakate mit der An­kündigung, Steiner werde am 3. Mai «abends halb acht Uhr im großen Saal des Sieglehauses wiederum sprechen über Wege aus der sozialen Not und zu einem praktischen Ziele».
Unweit der Zigarettenfabrik von Emil Molt, in der Champignystraße 17, entsteht ein «Zentrum der Dreigliederungsbewegung». Hier werden Veranstaltungen vorbereitet, Flug­blätter gedruckt und Pressemitteilungen verschickt. Unter dem Namen «Der Kommende Tag» wird ein eigenes Wirtschaftsunternehmen gegründet. Alles geht Schlag auf Schlag. Molt richtet für die Arbeiter in seiner Fabrik eine Bibliothek ein. Utopien interessieren Steiner und seine Mitarbeiter nicht. Was gilt, ist die Verwirklichung von Einrichtungen, die den Geist der Dreigliederung in sich tragen.

Nicht nur Wirtschaftsunternehmen, auch Gründungen wie die Waldorfschule sind angewandte Dreigliederung. Die Lehrer in dieser Bildungseinrichtung verwalten ihre Angelegenheiten selbst und operieren unabhängig vom Staat. Ein freies Geistesleben ist die erste Bedingung für das, was Steiner unter der neuen Sozialgestalt versteht. Die zweite Bedingung ist die Gründung assoziativer Wirtschaftsunternehmen: Konsumenten, Produzenten und Händler bilden aus ihrer Sach- und Fachkenntnis gemeinsame Urteile, aus denen sie neue Wirtschaftsweisen entwickeln. Die Aufgabe der Staatsmacht, das ist die dritte Bedingung, bleibt auf die rechtliche Gleichstellung der Menschen beschränkt – und nichts außerdem.
Steiners Kernpunkte kommen ohne sozial­wissenschaftliche Literatur aus. Er selbst kannte zwar die Werke der Soziologen seiner Zeit, doch seine Begeisterung für die meisten ihrer Gedanken hielt sich in Grenzen. Sein Buch, das in viele Sprachen übersetzt und innerhalb eines Jahres über 40.000-mal verkauft wurde, verstand er nicht als theoretischen Beitrag zur Soziologie, sondern als Praxisanleitung zur Umsetzung des Drei­gliederungsimpulses. Genau deshalb ist das Buch weiterhin aktuell.
In einem Vortrag am 28. August 1922 in Oxford nannte Steiner die Kernpunkte ein «Herzensbuch», das er ganz bewusst für den «Ort Süddeutschland» geschrieben habe. Leider sei es dem Verständnis der Leser verschlossen geblieben – sie hätten es mit ihrem Verstand gelesen statt mit dem Herzen.

Hundert Jahre nach 1919 dominiert das Wirtschaftsleben das Geistes- und das Rechtsleben mit eisernem Griff. Von Drei­gliederung keine Spur. Vielleicht gerade deshalb ist unsere Zeit reif für Steiners «Herzensbuch». Die Gedanken darin sind radikal und weiterhin richtungweisend.