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Anne-Kathrin Auel

«Freie Zimmer» im Hugenottenhaus

Nr 233 | Mai 2019

Nach sechseinhalb Jahren öffnet das Huge­nottenhaus in Kassel wieder für kunstinteressiertes Publikum: «Freie Zimmer», Aus­stellungs­projekt des Künstlerpaars Silvia und Lutz Freyer, beteiligt über 50 Künstlerinnen und Künstler. Freyers knüpfen dabei an neue enden an, 2015 für den Düsseldorfer Professor und documenta-Teilnehmer Fritz Schwegler organisiert, der damals 80 Jahre alt geworden wäre. Werke aus der im Kasseler Kunstverein und 2016 im Kontorhausviertel in Hamburg gezeigten Schau wurden von «Impulse für Kassel» angekauft. Nun werden sie mit weiteren Arbeiten von Schwegler-Schülern sowie von in Kassel ansässigen Künstlern im Hugenottenhaus präsentiert.
Die Verbindung zwischen Ort und Werk ist besonders eindrücklich, wo der Raum genuiner Bestandteil ist: Rana Matloub empfindet das Kinderzimmer nach, welches sie im Irak bewohnte. Maik und Dirk Löbbert arrangieren zwei signalfarbene Plastiken, die vom ehemaligen Hotelzimmer Besitz er­greifen. Christian Philipp Müller schwingt eine Axt in die im Fußboden eingelassene Tropenholz-Platte – in ein Relikt des US-amerikanischen Künstlers Theaster Gates, der hier zur dOCUMENTA (13) Material aus Chicago verbaute. Müller, Teilnehmer der­selben documenta, parodiert wiederum die Spitzhacke von Claes Oldenburg (d7). Das Foto einer Detonation, deren Rauchwolke sich hell vom nachtschwarzen Hintergrund abhebt, ursprünglich Bestandteil einer Installation um einen für den unerlaubten Besitz von Nitroglycerin Verurteilten, kombiniert Nils Klinger an einem Ort neu, der im Zweiten Weltkrieg stark beschädigt wurde.
Martin Honert, Thomas Schütte, Gregor Schneider – die Liste der (Meister)schüler und -schülerinnen im Geiste ist so lang wie die der Gattungen: Malerei, Zeichnung, Fotografie, Video, Bildhauerei und Installation machen Freie Zimmer abwechslungsreich, aber keinesfalls beliebig. Silvia Freyer hat die Werke sensibel ausgewählt und ihre Platzierung im Haus sorgfältig anhand von Modellen abgewogen. Zudem steuert sie mit ihren schoßhundgroßen Wesen, die sie «Ottis» nennt, Plastiken bei, die zwischen niedlich und unheimlich changieren. Mit der Bezeichnung spielt sie auf den ursprünglichen Spottbegriff «Hugenotten» für die französischen Glaubensflüchtlinge an, zudem fasziniert sie die etymologische Verwandtschaft der Begriffe Acht und Nacht.
Nur weil Lutz Freyer über ein halbes Jahr ehrenamtlich im Hugenottenhaus räumte und dessen Bausubstanz sicherte, wird das Projekt überhaupt möglich. Sogar der «Bodesaal», gestaltet von Paul Bode, dem Bruder des documenta-Gründers, wird für das Projekt hergerichtet. Dort, wo zur d13 eine Performance von Tino Sehgal aufgeführt wurde, wollen 1950er-Jahre-Sofas zur Kommunikation einladen. Freyer hat nicht nur gewerkelt, sondern vor Ort auch künstlerisch gearbeitet: unter anderem hat er seine Serie kurzer Videos zum Thema Geiselnahme erweitert. Während der Ausstellung lädt er die Besucher ein, sich durch ein aus Ton geformtes Selfie gestal­terisch zu beteiligen.
Als eingespieltes Team ergänzen sich die beiden Künstler kongenial, angetrieben vom grundsätzlichen Willen, zu gestalten. Die Ausstellung soll den Auftakt bilden für die künftige Nutzung des Hauses, das ein Ort für Kunst und Kultur werden soll. Der Rundgang beim Ausstellungsaufbau macht bereits klar, was das Paar geleistet hat, leistet und noch leisten wird. Freie Zimmer macht Lust auf eine Fortsetzung. Nach dieser Schau sollte in dem 1826 errichteten, immer weiter verfallenden Haus keine allzu lange Pause mehr einkehren. Möge es gelingen, in den freien Zimmern dauerhaft Kunst an­zusiedeln!