Rolf Erdorf

Ziemlich ganz geblieben

Nr 233 | Mai 2019

Der Fotograf Hannes Wallrafen

«Natürlich ist die Welt teils weiter von mir abgerückt», meint Hannes Wallrafen. «Aber wenn ich so im Raum bin – ich meine, zur Tür hinausgehe –, dann fühle ich mich doch als ihr Teil. Säße ich den ganzen Tag von morgens an zu Hause, würde ich wohl auch eher vereinsamen.»
Auch heute ist er nicht zu Hause geblieben, sondern hat sich mit «seiner» Linie 4 auf den Weg gemacht und zwischendurch bei seinem Lieblingsbäcker in der Utrechtsestraat noch ein Stück Kuchen für uns besorgt. Unser zweites Gespräch findet nämlich nicht in seiner Wohnung an der Amstelkade statt, sondern in seinem angemieteten Arbeits­zimmer im Amsterdamer Plantage-Viertel, in Sichtweite des Zoos, den alle hier nur «Artis» nennen. Hannes Wallrafen steht vor dem Haus, in der Hand eine seiner abgezählten Zigaretten des Tages, und seine Miene zeigt mir, dass er sich freut, mich zu treffen. Wir betreten ein würdiges altes Haus mit Vor­garten, weder edelsaniert noch gewinnoptimiert. Eine Oase, wie man sie in Amsterdam nur mehr selten findet. Das Haus gehört einem Freund, die Miete für sein geräumiges Arbeitszimmer ist für hiesige Verhältnisse sehr, sehr freundschaftlich. «Die Leute reden immer von der Anonymität der Großstadt, aber ich glaube ihnen kein Wort», meint Wallrafen und schildert mir amüsiert, heute allerdings habe ein neuer Fahrer die Tram gesteuert und seinen Versuch, ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen, mit der freundlichen Aufforderung abgebügelt, er solle sich doch bitte hinsetzen. Offenbar hatten ihn seine Kollegen nicht vorgewarnt, dass in Linie 4 öfter mal dieser schwatzhafte Blinde einsteigt, der mitunter auch zwei Jahre später noch weiß, wie man heißt und dass man sich irgendwann mal ein Hausboot gekauft hat und auf dem Wasser wohnt. «Es sind persönliche Gespräche, manchmal auch Gespräche über Belangloses, was völlig in Ordnung ist. Ich mag Belanglosigkeiten.»

Bei einem Menschen wie ihm übersieht man leicht «Belangloses», denn da gibt es Größeres: ein Schicksal, das er in einer Autobiografie mit dem Titel Der blinde Fotograf, die ich ins Deutsche übersetzen durfte, präsentiert. Außergewöhnlich nicht nur, weil Hannes Wallrafen als bekannter Fotograf im Alter von 53 Jahren aufgrund einer Erbkrankheit (LHON) plötzlich erblindete, sondern auch deshalb, weil er in Deutschland geboren wurde und erst mit knapp zwanzig Jahren nach Amsterdam übersiedelt ist. Als Übersetzer interessierte mich, in welcher Sprache er sich heute, mit 67 Jahren, am heimischsten fühlt. Mein erster Besuch gab eine eindeutige Antwort: Hannes Wallrafen ist kein «Expat», sondern hier zu Hause – in der Stadt, in der Sprache, in den Lebensgewohnheiten. Sein Deutsch dagegen ist stark eingerostet, weshalb die Konversation zwischen uns natürlicherweise auf Niederländisch stattfindet.
Typisch niederländisch ist auch die Wohnung, die er mit seiner Frau Rijtje bewohnt; aber so freundlich der Empfang auch gewesen sein mag, das Treffen in seinem externen Arbeitszimmer zeigt ihn mir von einer viel persönlicheren Seite als die blindengerecht übersichtlich gehaltene Privatwohnung. Das sagt sicher auch etwas über den Stellenwert aus, den seine künstlerische Arbeit – früher als Fotograf, heute als Audiograf – nach wie vor für ihn hat. Mir erscheint sie wie der Schlüssel für seinen Umgang mit sich und der Welt.
Am Anfang seiner Erblindung im Jahr 2004 sei er sich schon eingesperrt vorgekommen; wie in einem völlig verdunkelten Haus, in dem man sich nachts beispielsweise den Weg zur Toilette ertasten muss. «Es war natürlich konfrontierend, aber ebenso war es auch ein Abenteuer, in das ich mich hineinbegeben konnte. In meinem Buch beschreibe ich es auch als eine Art Entdeckungsreise.»

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Fotos: © Wolfgang Schmidt | www.wolfgang-schmidt-foto.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

Ein Bild, das zunächst geradezu euphemistisch wirkt, aber nur zunächst. Denn wie früher auf seine Auslandsreportagen, muss sich der blinde Hannes Wallrafen jetzt auf jeden Weg außerhalb der Wohnung vorbe­reiten: Wie so viele Amsterdamer spontan aufs Fahrrad zu springen, das ist endgültig vorbei. Als Blinder erfasst er Situationen nicht mehr simultan, sondern sequenziell, das heißt, er erkennt seine Umgebung nicht mehr mit einem Augenaufschlag, sondern setzt sie sich durch aufeinanderfolgende Wahrnehmungen zusammen, etwa durch Ertasten und Hören. Das ist aufwändig und zeitraubend und erfordert den vollen Einsatz der verbliebenen Sinne – und wenn der Weg von der Amstelkade ins Plantage-Viertel mit einem Zwischenhalt beim Bäcker schon so anstrengend wie eine kleine Entdeckungsreise ist, dann soll er auch wie eine Abenteuerreise ge­nossen werden.
Die erzwungene Langsamkeit lasse ihn Dinge intensiver erleben, erzählt er: «Nicht die obligatorischen Handlungen, sondern eher, wenn ich beispielsweise mal koche. Darin erlebe ich die Intensität des Schneidens, die Schärfe des Messers und die Konzentration, wodurch ich weiß, dass es auch gut geht. Das heißt, man macht die Dinge auch nicht nebenbei. Meiner Frau fällt es sehr schwer, den Kopf leer zu bekommen, und sie besucht jetzt einen Kurs in Mindfulness. ‹Du brauchst keinen solchen Kurs, du hast das schon in dir›, sagt sie. Intensität des Handelns und in der Vergangenheit die Intensität des wirk­lichen Sehens, das habe ich immer schon gehabt.»
Früher ein Entdecker mit der Kamera und Erzähler von Bildergeschichten, entdeckt er heute die Welt tastend und hörend, kreiert mithilfe von Tonaufnahmen seine Audio-Geschichten und entwickelt mit seiner Stiftung Geluid in Zicht Audio-Modelle wichtiger Räume wie des Plenarsaals des Parlaments in Den Haag oder demnächst des Amsterdamer Rijksmuseums. «Schon für Sehende ein Labyrinth», meint er verschmitzt.

Hannes Wallrafen ist ein behutsamer Mann, behutsam auch in seiner Wortwahl, besonders, wenn es um die schweren Aspekte seines Daseins geht. So sagt er «konfrontierend», wo andere wahrscheinlich «schreck­lich» gesagt hätten. Eine Zurückhaltung, die mir auch in seinem Buch aufgefallen ist. Wobei er die Härten nicht verschweigt. «Aber die Extreme der Angst, diese Momente in meiner Blindheit, in denen ich mir nicht mehr zu helfen wusste, damit gehe ich nicht hausieren. Ich nenne sie, indem ich mich beschreibe. Aber ich dramatisiere nicht.»
Verliert ein Mensch sein Augenlicht, verbietet es sich umgekehrt aber auch, das in irgendeiner Weise zu relativieren. Nur – das Leben hält sich nicht immer daran.
Im Sommer 2015 wurde bei Hannes Wall­rafen Lungenkrebs im fortgeschrittenen Stadium festgestellt. Die Ärzte teilten ihm mit, dass eine Heilung ausgeschlossen sei. Nur mehr palliativmedizinisch betreut, erwartete er seinen sehr baldigen Tod. «Was für eine unschuldige Erkrankung die Blindheit aus dieser Perspektive doch war!» Aber anders als bei seiner LHON-Erkrankung blieb die Medizin nicht hilflos, sondern das Wunder geschah: Eine neu entwickelte Immuntherapie rettete ihm nach einem ersten Fehlschlag im zweiten Anlauf das Leben. – Schon aufgegeben zu sein und durch den medizinischen Fortschritt im letzten Moment doch noch gerettet zu werden, ist eine Erfahrung, die wir teilen. «Nimm dein Bett und geh!», soll da mal jemand lapidar gesagt haben. Ich frage Hannes danach, wie das für ihn war, und bin mir sicher, die Antwort wird nicht sein: «Und der Lahme nahm sein Bett und hüpfte munter davon.» – «Nicht die Blindheit, aber der Krebs hat mich geschafft.

Als ich mich schließlich in einer Art Heilungsphase wiederfand, wo man dachte, jetzt machst du einen Luftsprung und klatschst vor Freude in die Hände, da überfiel mich die Schwermut. Die ganze Banalität des Lebens holte mich wieder ein, ohne das wie vorher immer sofort jemand bereitstand, mir zu assistieren oder mich von hier nach da zu fahren.» Auch das ist überstanden.
«Ich habe dir gesagt, ich besäße einen gewissen Pragmatismus, aber ich denke, es ist eher ein Stoizismus, und zwar in der wirk­lichen Bedeutung des Wortes. Man nimmt eine Situation so an, wie sie ist. Man kreiert nicht eine Welt um sich, die man doch nicht mehr zusammenbekommt. Statt zu jammern, sage ich mir: Es ist nun mal so.»
Ich frage ihn nach seinem geistigen Rüstzeug, das ihn immer wieder auf die Welt und die Menschen zugehen lässt. «Ich weiß, den kirchlichen Glauben hast du irgendwann drangegeben», hebe ich an. «Aber davon trage ich noch jede Menge in mir», erwidert er. «Das Weltbild, das Gerechtigkeitsbild, das kommt auch aus meiner Vergangenheit, und sicher aus dem Kontakt mit meinem Onkel, dem Pfarrer!» Ich bin überrascht. Ob er denn nicht das Gefühl habe, das Leben sei ihm gegenüber ungerecht gewesen, will ich wissen. «Ach, du meinst, bloß auf mich bezogen? Das sagen andere mir auch: Erst Blindheit und dann Krebs, das ist ja so was von ungerecht!» Mir wird klar, dass der Gedanke wirklich nicht seiner ist.

Die mitfühlendsten Worte in seiner Autobiografie gelten daher auch nicht ihm selbst, sondern seinem Vater: wie hart und unerbittlich er als Nachkriegskind diesem gegenüber gewesen war. Ob sein eigenes Leid ihn seinen Vater besser habe verstehen lassen, frage ich. «Nicht das Leid, sondern das Alter hat mich meinem Vater nähergebracht. Nicht mehr diese Entschiedenheit, die man in der Pubertät und als junger Heranwachsender so in sich hat. Ich bin mir auch sicher, dass ich als 20-Jähriger viel größere Probleme mit meiner Blindheit gehabt hätte als mit 53. Ich habe die Augen ziemlich weit aufmachen können, und das trage ich in meiner Erinnerung auch noch mit mir, das ist absolut ein Unterschied zu einem Jüngeren.»*
Dann wäre sein Beruf womöglich die Blindheit geblieben, sage ich, und er lacht. «Nein, die Blindheit ist nicht mein Beruf. Ich finde, ich bin ziemlich ganz geblieben, meine Persönlichkeit hat sich dadurch nicht wirklich geändert. Nur mein Verhalten, weil die Blindheit mir gewisse Einschränkungen auferlegt. Aber in meiner Persönlichkeit … Gott, ich habe zwar Dinge gelernt, zum Beispiel geduldiger zu sein, aber echt, ich bin kein anderer Mensch geworden.»