Albert Vinzens

Das Rätsel Leonardo da Vinci

Nr 233 | Mai 2019

Zum 500. Todestag

Die Auseinandersetzung mit Leonardo da Vinci (15. April 1452 – 2. Mai 1519) fällt kontrovers aus – oft sogar extrem. Hängt dies mit dem Künstler selbst zusammen? Ist nicht alles an Leonardo kontrovers und extrem? Seine Gemälde werden fünfmal so teuer gehandelt wie die von Picasso und van Gogh zusammen. Wie ist das möglich? Der Schriftsteller und Kunstkritiker Heiner Stachelhaus spricht Leonardo «eine Schlüsselrolle für Beuys und sein Verständnis von Kunst und Leben, Sein und Zeit, Himmel und Hölle, Erde und Kosmos» zu. Wie kommt er zu dieser Einschätzung? Ganz anders der Journalist Dirk Schümer, der mit Leonardo, dessen Bilder er für eine verwaschene Soße hält, schlichtweg nichts anfangen kann und ihn in Die Welt als Pappfigur verballhornt, «im Triumvirat der abendländischen Superstrubbelköpfe gleich neben Einstein und Mozart». Warum diese Häme? Ist Leonardo denn nun «die Palme unter den Künstlern», wie ihn der Leonardoexperte Wilhem von Bode nannte, oder eben doch nur ein verkorkster Daniel Düsentrieb?
Der unermüdliche Maler, Architekt, Philosoph und Universalist Leonardo da Vinci erfand menschenverachtende Maschinen, Kanonenorgeln und andere Vernichtungs­waffen. Wer sich so etwas ausdenke, sei kein Menschenfreund, sagen manche. Andere verweisen auf einige der schönsten je von einem Menschen gemalten Madonnen – auch sie stammen von ihm. Wie lässt sich das zusammenbringen?!

Doch Leonardos Schaffen ist nicht nur von Gegensätzen, sondern auch von Kontinui­täten durchzogen. So beschäftigte er sich zeitlebens in Hingabe und Ergebenheit mit Naturphänomenen. Darin ist er selbst ein Phänomen und deshalb schwerer zu fassen als die von ihm abgeleiteten Theorien. Vielleicht liegt in seiner Naturverbundenheit sein Geheimnis verborgen. Leonardos ana­tomische Zeichnungen und seine Natur­studien ziehen sich wie ein roter Faden durch sein Leben und erfreuen sich großer Wertschätzung.
Ähnlich wie nach ihm Goethe, der ebenfalls ein Leben lang mit viel Zeit unterwegs war zu einer neuen Sprache für die Natur, zeichnete Leonardo unaufhörlich Studien nach der Natur und hielt seine Erkenntnisse in Skizzen fest. Er suchte keine Theorie hinter den Phänomenen, sondern blieb diesen selbst treu. Er begeisterte sich am schönen Blau im dunstigen Himmel, hinter dem er die Dunkelheit des Universums ahnte, und er übte sich darin, solche Erfahrungen darzustellen. Der Prozess der An­näherung an die Natur war bei Leonardo unendlich differenziert. Dass große Teile seines Werks unfertig wirken, gehört zur Handschrift und zum wissenschaftlichen Credo dieses Uomo universale.
Eine «Erkenntnis, die nicht durch die Sinne gegangen ist, kann keine andere Wahrheit erzeugen als die schädliche», notierte er. Leonardo versuchte, das Paradies der Mathematik im Sinnlichen zu zeigen, und im Menschen sah er das Modell für den Kosmos, allerdings nicht als Faktum, sondern als etwas, an dem dauernd geforscht werden muss.

Auch der Kunstgeschichtler Herman Grimm und der Philosoph Friedrich Nietzsche versuchten, das Geheimnis Leonardos zu lüften und kamen, wie könnte es bei ihm anders sein, zu entgegengesetzten Ergeb­nissen. Grimms Beschreibung jener Rötelzeichnung, die den alten Leonardo drei Jahre vor seinem Tod mit wehenden Haaren darstellt, liest sich wie eine Kurzvita des Künstlers. Jede Zeile trifft ins Mark. Grimm bringt das zerrissene Leben Leonardos zwischen Licht und Schatten zum Ausdruck: «Ein unbeschreibbarer Zug herber Gedanken liegt in seinem Munde und eine finstere Schärfe im Blick, die genügsam beide sagen, dass dieser Mann in Zwiespalt lebte mit seinem Schicksal. Bitterkeit, Verschlossenheit, Überlegenheit, etwas wie das Wesen eines Zauberers redet aus dieser Zeichnung. Wenn man Vasaris Schilderung im Sinne hat, wie Leonardo in jungen Jahren so viel Liebenswürdigkeit ausströmte, dass alles sich fest­gehalten und mitgezogen fühlte, wenn wir da lesen, wie er, in jugendlicher Freude durch die Straßen von Florenz ziehend, den Vogelhändlern auf dem Markte Geld gab so viel sie verlangten, damit sie ihre Käfige aufsperrten, wenn wir sehen, wie sein Geist, im unge­meinen Umfange seiner Kraft schwelgend, schaffend und beobachtend alles erfasste, alles leistete, und wenn wir ihn im Alter damit vergleichen, fern von seinem Vaterlande (…), so fühlt man, wie zu den Gaben des Geistes das Glück hinzu­treten muss, wenn sie sich entfalten und Früchte tragen sollen.» Grimm kommt zum Schluss, die Bedeutung Leonardos sei, anders als bei seinen großen Zeitgenossen Michelangelo und Raffael, wegen seiner flüchtig unvollendeten Art für die italienische Kunst gleich null.

Ganz anders Friedrich Nietzsche. Wie Grimm hebt auch er Leonardos Licht- und Schattenseiten hervor, doch sein seismografisches Gespür, mit dem er die Geheimniszone Leonardos umkundet, erkennt gerade darin die Größe des Genies. Leonardo sei ein «zur Verführung vorherbestimmter Rätselmensch», eine unbegreifliche Größe, über­europäisch, überchristlich und dabei zutiefst verschwiegen. Ein Einsamer und Isolierter, der «einen zu großen Umkreis von guten und schlimmen Dingen gesehen hat.» In einem nachgelassenen Fragment, das sich mit der Frage beschäftigt, was einen großen Menschen ausmache, resümiert Nietzsche, man wolle stets, «dass der Glaube das Auszeichnende der Großen ist: aber die Unbedenklichkeit, die Skepsis, die Erlaubnis sich eines Glaubens entschlagen zu können, die ‹Unmoralität› gehört zur Größe.» Leonardo, der für den Klerus Heiligenbilder malte und sich gleichzeitig von allen Kirchendogmen distanzierte, habe diese Größe gehabt.
Eines der aufsehenerregendsten Werke Leonardos ist die Felsengrottenmadonna. In diesem Gemälde wird neben dem Eindruck des Schönen und Erhabenen der Abgrund des Lebens sichtbar. Das Bild – Leonardo schuf zwei Versionen, eine um 1483–1486, die zweite um 1493–1508 – ist nicht einfach nur schön. Die Zeitgenossen waren darüber irritiert. Die Franziskanische Bruderschaft der Unbefleckten Empfängnis lehnte es ab, das Altarbild mit der Felsengrottenmadonna, das Leonardo in ihrem Auftrag gemalt hatte, in ihrer Kirche aufzustellen.

Mit heutigen Augen lässt sich dieses Madonnenbild anders betrachten, denn wir wissen inzwischen, dass sich die Wirklichkeit dieses Bildes nicht in seinen Figuren erschöpft, sondern ebenso in den wie aus einem Urdunst aufsteigenden Farben und in den düsteren Formen des ruinenhaften Gesteins und der Landschaft. Dieses Werk ist Ausdruck umfassender Verbundenheit mit der menschlichen und mehr als menschlichen Welt.
Leonardo vollzieht darin die bis in die Details der Farbübergänge gestaltete Verschmelzung des Menschen mit der ihn umgebenden Natur.