Andre Bartoniczek

«Versailles» und seine Folgen

Nr 234 | Juni 2019

100 Jahre Friedensvertrag und seine Wirkungen auf die Gegenwart

Zu den tiefsten Sehnsüchten des Menschen gehört der Frieden. Das russische Mir, das bezeichnenderweise auch für die «Dorfgemeinschaft» steht, und die arabischen und hebräischen Grußformeln Salám und Schalom, mit denen wie im deutschen Ausdruck «Der Friede sei mit dir» dem Mitmenschen der Segenswunsch zugesprochen wird, lassen ein Ideal anklingen, in dem sich das Bild eines gesunden, sinnhaften und glücklichen Zusammenlebens artikuliert.
Umso deutlicher zeigt sich seine Verzerrung, wenn am Anfang des 20. Jahrhunderts von einem Friedensvertrag die Rede ist, der einen Krieg zu beenden vorgibt und gleichzeitig die Grundlagen für den nächsten schafft. Es ist dieselbe Zeit, in der der ameri­kanische Präsident Woodrow Wilson mit der Formel des Selbstbestimmungsrechts der Völker das wohlklingende Freiheitsver­sprechen der Nationen ausruft und faktisch damit die Initialzündung für die Konflikte vieler betroffener Volksgruppen legt, die bisher zum Teil auf gemeinsamem Boden friedlich koexistierten, nun aber je einen eigenen Staat bilden sollten und dabei zu blutigen Gegnern wurden (so die Tragödie des von vielfältigsten Ethnien bewohnten Balkans).
Es ist auch die Zeit eines Lenin, der seine unter den Sozialisten immer in der Minderheit bleibenden Anhänger «Mehrheitler» (Bolschewiki) nennt und sich mit ihnen 1917 durch einen als «Große Sozialistische Oktoberrevolution» ausgegebenen Putsch die diktatorische Macht über Russland erkämpft. Es ist nicht zuletzt aber auch die Zeit, in der General Ludendorff als Chef der Obersten Heeresleitung eine «Revolution von oben» mit dem Ergebnis einer Parlamentarisierung in Deutschland provoziert, um am Ende die Armee und sich selbst als Opfer stilisieren und die Verantwortung für die Kriegsniederlage den Demokraten zuschieben zu können. Die Dolchstoßlegende, auf einer Lüge basierend, wurde zu einem der wirksamsten Propagandainstrumente, die den National­sozialismus vorbereiteten.

Das «postfaktische Zeitalter» beginnt spätestens mit dem 1. Weltkrieg, und der «Friedensvertrag von Versailles» vollzieht das genaue Gegenteil von dem, was in seinem Titel behauptet wurde. Bereits der Wirtschaftssachverständige John Maynard Keynes, der als Mitglied der britischen Friedens­delegation zuletzt aus Protest gegen die Haltung der Siegermächte sein Amt niederlegte, kritisierte 1919, dass die Sieger bewusst keine eindeutige Reparationssumme fest­legten, damit sie Deutschland in einer permanenten Abhängigkeit halten konnten, und resümierte: «Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, dass das wirtschaftliche Grundproblem eines vor ihren Augen verhungernden und verfallenden Europa die einzige Frage war, für die es nicht möglich war, die Teilnahme der Vier (Siegermächte, Anm. d. Red.) zu erwecken.»* Ein anderer Teilnehmer auf alliierter Seite – der amerikanische Staatssekretär des Auswärtigen, Robert Lansing – formulierte: «Prüft den Vertrag, und ihr werdet finden, dass Völker gegen ihren Willen in die Macht jener ge­geben sind, die sie hassen, während ihre wirtschaftlichen Quellen ihnen entrissen und anderen übergeben sind. Hass und Erbitterung […] müssen die Folgen derartiger Bestimmungen sein. […] Wir haben einen Friedensvertrag, aber er wird keinen dauernden Frieden bringen, weil er auf dem Treibsand des Eigennutzes gegründet ist.»
Der Ausbruch des Krieges war das Ergebnis jahrzehntelanger sozialdarwinistischer Kampfszenarien, die in der Spirale der Aufrüstung und in dem kolonialistischen Wettlauf um die Ressourcen zwischen den Nationen einen grenzenlosen Hass erzeugten – darüber wurde in Versailles allerdings nicht gesprochen. Ein wirklicher Friede war damit schon im Kern seiner Entstehung unterwandert.

Zu «Versailles» gehört auch «Trianon»: der ein Jahr später (am 4.6.1920) Ungarn aufgezwungene Vertrag, durch den das Land etwa zwei Drittel seines Territoriums an seine Nachbarstaaten verlor – eine tiefe, nie verheilte Wunde in der Geschichte der Nation. Nur dem hartnäckigsten Eurozentrismus entgeht aber, dass von den «Friedensverhandlungen» noch andere Schauplätze betroffen waren; so haben die Staaten des Nahen Ostens bis heute an den Maßnahmen der Siegermächte zu leiden. Nachdem die Briten den arabischen Herrschern für den Kampf gegen die Osmanen einen selbstständigen pan­arabischen Großstaat versprochen hatten, aber bereits 1916 im Sykes-Picot-Abkommen mit Frankreich geheim ihre Interessenssphären bezüglich des Territoriums absteckten, wurden nach dem Krieg nun die einstigen syrischen und irakischen Provinzen unter britisches und französisches Mandat gestellt, die erdölreiche Provinz von Mosul fiel an den Irak, der unter britischem Mandat stand – und die in Mosul ansässigen Kurden verloren schlagartig ihr Land.

Bereits im 2. vorchristlichen Jahrhundert markierte im Anblick der Punischen Kriege wegweisend der Historiker Polybios den Unterschied zwischen Anlass und Ursache: Er erkannte die vordergründigen Auslöser der kriegerischen Auseinander­setzungen als Hinweise auf tieferliegende historische Konflikte, denen wiederum die in die Zukunft drängenden Antriebe historischer Entwicklung zugrunde lagen. Die Grenzzäune, Verteilungskämpfe und kontroversen poli­tischen Kalkulationen von heute sind vielleicht auch nur der Vorschein geschichtlicher Frage­stellungen, um die es wirklich geht. Der Beginn des 20. Jahr­hunderts hat solche Fragen wie historische Aufgaben ans Tageslicht gebracht: Die Forderung nach einer «Erdballgesinnung» formulierte das Motiv einer gesellschaft­lichen Verantwortung für den ganzen Globus, die Revolutionen von 1917-1919 wurden zum Weckruf gerechter und freiheitlicher Gesellschaftsordnungen, und die Rede vom «neuen Menschen», die schöpferischen Aufbrüche der modernen Kunst und die gesellschaftlichen Utopien, wie sie zum Beispiel im «Bauhaus» erprobt wurden, das 2019 auch seinen 100. Geburtstag feiert, brachten einen spirituellen Aufbruch zum Ausdruck, der die Bestimmung des Menschen und seine Würde neu zu fassen versuchte.
Viel wäre gewonnen, wenn Polybios Unterscheidung verinnerlicht würde – bleibt das Bewusstsein wie bereits 1914 «schlafwandlerisch», werden die historischen Zerstörungspotenziale die nächsten ge­waltsamen Ausbrüche vorbereiten. Eine Befriedung aktueller kriegerischer Konflikte wird nur durch ein Verständnis der Er­eignisse möglich sein, die mit dem Eintritt der Geschichte in das 20. Jahrhundert verbunden sind.