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Allison Rushby

Der Maulbeerbaum

Nr 234 | Juni 2019

gelesen von Simone Lambert

Ein riesiger laubloser, unfruchtbarer Maulbeerbaum reckt düster seine bizarr gewundenen Äste über das Haus, in das Immys Familie einzieht. Sie wurden gewarnt, doch Immy und ihre Eltern setzen sich über die Spukgeschichten hinweg, die in dem reizenden kleinen Ort in Cambridgeshire kursieren: Der Maulbeerbaum hinter dem Lavender Cottage, das die Familie aus Sydney für ihren einjährigen Aufenthalt gemietet hat, soll den Bewohnern die Töchter rauben, und zwar in der Nacht vor deren elften Geburtstag. Nun steht Immys eigener elfter Geburtstag kurz bevor. Wird sie selbst ein Opfer des Baumes werden wie alle glauben? Immy fühlt sich von dem Mysterium um den Maulbeerbaum angezogen, will sich den Ängsten der Dorfbewohner aber nicht beugen. Entschlossen forscht sie nach und erfährt immer mehr Details der Geschichte.
Immys Familie folgt der Mutter für eine Anstellung als Chirurgin von Australien nach England. Dahinter steht auch der Versuch, die Probleme der Familie weit hinter sich zu lassen. Der Vater, selbst Arzt, ist depressiv
geworden, weil er sich für ein tödliches Fehlverhalten eines Patienten verant­wort­lich fühlt. Die Familie ist untereinander eng und vertrauensvoll verbunden, aber das Schuld­­gefühl belastet und bedroht das Gefüge.
Immy ist wütend auf ihren Vater, der sich so verändert hat: statt stark und aktiv, wie sie ihn kennt, zeigt er sich abwesend, passiv und ängstlich. Auch der Baum, der mit Ästen nach ihr schlägt und nachts gegen ihr Fenster lärmt, strahlt Bösartigkeit aus, Wut und Hass. Immy baut eine Beziehung zu diesem Baum auf wie zu einem Wesen mit einem eigenen Gefühlsleben. Dass sie darüber auch ihren Vater besser verstehen lernt, ist eine geschickte Verzahnung der Themenkomplexe, die hier spannungsge­laden geschildert werden.
Das Blatt wendet sich, als Immy lernt, zu ihrem augenblicklich schwachen Vater zu stehen und ihm Verständnis und Unter­stützung entgegenzubringen. Ihr Mitgefühl verändert auch den Baum: sie nimmt nun Müdigkeit und Trauer an ihm wahr.
Wenn Immy Ahnungen und para­normale Erlebnisse hat, die ihr nach und nach die Problematik um den Maulbeerbaum erhellen und dann zur Lösung des Rätsels führen, dann kann dieser Einbruch von Phantastik in den realistisch geschilderten Familienkonflikt als gesteigerte empathische Wahrnehmungsfähigkeit des Mädchens erklärt werden. Dass die Realität zum Ende hin Verschiebungen erfährt, bleibt irrational, hat aber eine eigene, innere Logik.
Mitleid statt Wut, Hilfsbereitschaft statt Furcht, Vergebung statt Verletzung – mit­fühlendes Handeln verändert alles. Selbst die Vergangenheit wird schließlich ver­wandelt und erscheint rückblickend wie ein böser Traum: Der Baum «hatte seine Fehler korrigiert. Er hatte das Vergangene rückgängig gemacht.» Er hatte dem Dorf vergeben und sich selbst befreit.
Dieser Kinderroman zielt in die Tiefe menschlichen Vermögens und regt die jungen Leser zum Nachdenken über den Umgang mit Konflikten an. Der Gruselfaktor, der von dem majestätischen Baum ausgeht, löst sich schließlich auf, ebenso wie die gespannte, aufgeladene Atmosphäre im Dorf. In dieser weisen Geschichte mit ihrer Heldin, die sich mit der Schwäche von Erwachsenen auseinandersetzen muss, wird am Ende das Leben gefeiert.