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Birte Müller

Natürlich lernen

Nr 234 | Juni 2019

Jedes Kind will lernen! Das klingt so einfach, und bevor ich selbst Kinder hatte, habe ich es gerne gesagt. Ich fand auch Interviews mit Erziehungsberatern toll, die meinten, dass die Kinder heute viel zu viel Zeit mit technischen Geräten verbringen und überhaupt alle Diagnosen von ADHS bis hin zu Legasthenie oder Hochsensibilität reine Zivilisationskrankheiten seien. Mit viel Liebe, Freiheit und Naturerfahrungen dachte ich meine Kinder wie nebenbei großziehen zu können.
Und dann bekam ich ein Baby, das so gar nicht nebenbei lief und scheinbar nichts von selbst lernte, nicht mal das Saugen oder Schlucken! Natürlich ist Willi ein Sonderfall. An ihm durften wir Eltern lernen – zum Beispiel, sein Kind nicht für seine Leistungen zu lieben.
Bei Willis unbehinderter Schwester schien es dagegen mit dem Lernen wirklich ganz einfach – wenigstens bis zur Schule. Olivia ist empathisch, begeisterungsfähig, kreativ, eloquent, und sie hat einen ganz besonderen Humor. Als wir früher Besuch anderer Kinder hatten, kamen mir – auch wenn man das ja eigentlich nicht zugeben darf – manche im Vergleich zu meiner Tochter richtig begriffsstutzig vor. Sie konnten nicht die Uhr lesen, nicht nähen, und einige wussten nicht mal, wie Löwenzahn aussieht. Sie konnten auch keine Geschichten zusammenfassen und schon gar keine Ironie verstehen.
Aber mit dem Eintritt in die Schule stellte sich heraus, dass diese Kinder dort ganz problemlos mitliefen, unsere Tochter dagegen so gar nicht. Selbst in Fächern wie Naturkunde sagt Olivia, sie sei die Schlechteste. Olivia weiß, wie Spitzwegerich aussieht und dass man ihn zerreibt und auf juckende Mückenstiche macht. Sie erkennt zu jeder Jahreszeit Holunder, der diese tollen hohlen Äste hat, sodass man Perlen daraus schnitzen kann, und sie fängt Frösche mit der Hand. Aber aus der Schule kommt sie lediglich mit der Information, man dürfe Frösche nicht anfassen. «Mama, Naturkunde hat gar nichts mit Natur zu tun», sagte sie zu mir und behielt recht. Jede Stunde gab es ein Arbeitsblatt mit einem Text – und manchmal einem kaum zu erkennenden grauen Bild – und mit zu beant­wortenden Fragen. Doch so lernt meine Tochter gar nichts. Sie erfasst visuell, sie lernt mit Erfahrungen und über Emotionen. Aber im Zusammenhang mit Schule machte sie die ersten zwei Jahre nur eine Erfahrung: nämlich zu versagen.
Und dann steht man als Eltern mit einem Kind da, das mitnichten den Tag mit einem Handy verdaddelt und dem sehr wohl viel vorgelesen wurde (und wird), das auf Bäume klettert und im Matsch wühlt und trotzdem gleich mehrere der Diagnosen bekommt, die man selbst früher für Quatsch gehalten hat.
Tatsächlich sehe ich meine Tochter trotzdem nicht defizitär. Aber was mich wahnsinnig nervt, ist die Tatsache, dass uns dieses Drama mit der Schule so viel schöne Zeit klaut, in der wir draußen sein könnten, um die Welt zu entdecken, zu werken und zu basteln!


Holunderschmuck
Holunder findet sich fast überall an den Wegesrändern. Er wächst sehr schnell, sodass immer abgestorbene Zweige zu finden sind. Hier haben wir einen Ast in kleine Stücke gesägt. Das weiche Mark pult immer Olivia heraus, sie liebt das. Dann haben wir die Perlen schön glatt geschmirgelt und vor dem Auffädeln einfach mit Wasserfarben angemalt. Aber auch in Natur sehen die Holzperlen schön aus, wie Olivias Indianerschmuck zeigt.