Hoffnungsvoll gewiss

Nr 235 | Juli 2019

Liebe Leserin, lieber Leser

«Die Tatsache, dass es nichts anderes gibt als eine geistige Welt, nimmt uns die Hoffnung und gibt uns die Gewissheit.» Das schrieb der am 3. Juli in Prag geborene deutschsprachige Dichter Franz Kafka im 62. seiner säuberlich von
1 bis 109 nummerierten sogenannten Zürauer Aphorismen, als er für acht Monate, von September 1917 bis April 1918, in Zürau in Böhmen auf dem Land bei seiner Schwester Ottla weilte.
Neulich weilte ich zum ersten Mal in Prag und staunte über die überwältigende Anzahl und bunte Vielfalt von Touristen, für die sich diese alte kaiserliche Residenzstadt in den letzten dreißig Jahren geschmückt hat. Da kann einem zu dem anfangs zitierten auch der 94. der Zürauer Aphorismen in den Sinn kommen: «Zwei Aufgaben des Lebensanfangs: Deinen Kreis immer mehr einschränken und immer wieder nachprüfen, ob Du Dich nicht irgendwo außerhalb Deines Kreises versteckt hältst.»*
Wie viel Gewissheit möchte ich in meinem Leben haben, wenn mir dabei die Hoffnung genommen werden sollte? Wie findet sich ein Mensch innerhalb seines Kreises und versteckt sich nicht vor sich selbst? Das könnte für eine Stadt wie Prag mit ihrer monumentalen und menschlich so vielschichtigen, mitteleuropäisch geprägten Geschichte, wie ebenso für Franz Kafka oder für einen jeden von uns gelten.
Es sind bemerkenswerte Tatsachen, die dieser geografisch-geschichtlich-geistige Ort Prag einem Besucher bereithalten kann – nur oft versteckt oder verloren im touristischen Trubel. Aber das sind vielleicht alle Tatsachen, auf die es im Leben ankommt, bis sie wirklich wahrgenommen und für wahr genommen werden.
In dieser Stadt Franz Kafkas dachte ich auch an einen anderen deutschsprachigen Prager Schriftsteller jüdischer Herkunft, an Leo Perutz, und seinen zuletzt zu Lebzeiten erschienenen geheimnisvollen Novellenroman Nachts unter der steinernen Brücke.

Nächtlich, in inniger Zweisamkeit durch diese Stadt wandelnd, notierte ich im Nachsinnen:

Hundertacht Schwäne
zähltest du nachts
unter der steinernen Brücke


Auch das ist eine Tatsache. Und sie ist hoffnungsvoll gewiss und lebensfroh zugleich.

So grüßt Sie in diesem Monat von Herzen
Ihr
Jean-Claude Lin