Dieter Fuchs (Text & Fotos)

Zu Gast auf der Schildkröteninsel

Nr 235 | Juli 2019

Für einen Europäer ist Kanada ein Land der Superlative, und man kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Alles ist riesig, endlos, unüberschaubar – in der Vorstellung, auf dem Atlas und auch in echt. Von Neufundland an der atlantischen Ostküste bis nach Vancouver im pazifischen Westen sind es über 5.000 Kilometer. Allein in die Provinz Ontario würde Deutschland flächenmäßig dreimal hineinpassen, dabei leben dort gerade einmal 13 Millionen Menschen. Die Weite des Landes ist unermesslich.
Aber es ist der Reichtum an Wasser, der hier mehr als alles andere ins Auge sticht. Sieht man bereits beim Überqueren von Labrador und Québec nichts als Seen, Seen und nochmals Seen, wird dann beim Anflug auf Toronto der Lake Ontario sichtbar. Dieses majestätische Gewässer erstreckt sich über knapp die Hälfte der südlichen Provinz- und gleichzeitig Landes­grenze zu den USA und ist trotz seiner gewaltigen Ausmaße doch der kleinste der fünf Großen Seen – dabei ist er von der Oberfläche her rund 40-mal größer als der Bodensee. Man muss es mit eigenen Augen sehen – und will es immer noch nicht glauben.

250.000 Seen gibt es in der Provinz Ontario, größer als der Bodensee sind ganze 13. Natürlich gibt es zudem auch zahl­reiche Flüsse. Der mächtigste davon ist der ehrfurchtgebietende St.-Lorenz-Strom, der im Osten aus dem Lake Ontario hervorgeht und dann träge zum Atlantik fließt. Hier, am Übergang zwischen See und Fluss, beginnt eine zauberhafte Land- oder besser: «Wasserschaft» in Form der «1000 Islands», einer Ansammlung oder Abfolge von tatsächlich knapp 2000 Inseln im Strom, wobei dazu nur zählt, was 365 Tage im Jahr über Wasser ist und mindestens zwei lebende Bäume beherbergt.
Die ersten paar Inseln, darunter die größte, Wolfe Island, sind noch von Kingston aus sichtbar, das sich am nordöstlichen Ende des Sees befindet und einstmals Hauptstadt von sowohl Ontario als auch Kanada werden sollte. Seine strategische Bedeutung erhält dieser Ort auch dadurch, dass hier der von Norden kommende Cataraqui-Fluss in den äußersten Seezipfel mündet, welcher wiederum Abschluss des Rideau-Kanals ist. Dieser Wasserweg führt über Flüsse, Seen und insgesamt nur 19 Kilometer künstlich angelegte Verbindungen bis ins 200 Kilometer entfernte Ottawa, am weit ins Landesinnere reichenden Ottawa-Fluss gelegen und heutige Hauptstadt Kanadas.
Ist die Fahrt auf diesem historischen Verbindungsweg mit teilweise noch handbetriebenen Schleusen heute definitiv ein Erlebnis der besonderen Art, waren vor Erfindung des Auto­mobils und dem allfälligen Bau von Straßen Seen und Flüsse die einzige Möglichkeit, sich in den riesigen, waldreichen Gebieten der Neuen Welt zumindest einigermaßen schnell fortzube­wegen. Und genau so erfolgte auch ihre Erschließung durch Franzosen und dann auch Engländer. Reise- und Transportmittel war dabei das Kanu, dessen Benutzung von den anfänglich durchaus kollaborierenden Ureinwohnern – den First Nations – übernommen wurde. Noch heute gehört es in Kanada zum guten Ton, ein Kanu zu besitzen oder damit zumindest umgehen zu können.

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Hauptzufluss des Ontario-Sees ist der im Südwesten vom Lake Erie kommende Niagara River, dessen berühmte Fälle jedes Kind schon vom Hörensagen kennt und vermutlich jeder gern einmal sehen würde. Hier wird Natur zum Event: umfassendes Merchandising, Bootsfahrten in die Gischt, ein Rummelplatz – besser hätte selbst Disney das nicht konzipieren können. Wer dem Touristenrummel entgehen will und auch die abendliche Beleuchtung der Fälle nicht braucht, sieht sich in den frühen Morgenstunden, wenn nur vereinzelt Fotografen oder Jogger unterwegs sind, einem echten Naturwunder gegenüber. Gemächlich den Fluss herunterströmend, stürzen an den Fällen, den beiden auf amerikanischer sowie dem größeren und bei weitem imposanteren Horseshoe Fall auf kanadischer Seite, pro Minute insgesamt 168.000 Kubikmeter Süßwasser in die Tiefe. Rund 50 Meter geht es nach unten, und durch das aufgewirbelte Wasser bilden sich nicht nur feuchte Nebelschwaden, sondern je nach Sonnenstand immer wieder auch Regenbogen. Das Rauschen, Fallen und Aufprallen des Wassers ist unglaublich laut, ein beständiges Dröhnen, Donnern und Tosen, und doch nimmt man es nicht als Lärm wahr, sondern als inspirierenden Klang, als eine vollendete Musik der Natur. Das Erhabene – hier wird es direkt erlebbar.

Von der Mündung des Niagara sind es quer über den Ontario-See rund 40 Kilometer nach Toronto, Hauptstadt von Ontario und als bevölkerungsreichste Metropole Kanadas auch kulturelles Zentrum. Schon von weit her sieht man das Wahrzeichen der Stadt, den hoch aufragenden CNN-Tower. Rund 3 Millionen Menschen leben im eigentlichen Stadtgebiet, fast die doppelte Anzahl im gesamten Ballungsraum. Toronto liegt direkt am See und hat nicht nur zahlreiche Badestrände, sondern in Form der vorgelagerten Inseln noch ein zusätzliches, von Einheimischen wie auch Touristen nur allzu gern als Ausflugsziel angesteuertes Naherholungsgebiet. Ob man aber am hier befindlichen Ward’s Beach ins Wasser des Ontario-Sees steigen will, sollte man sich überlegen. Hier wie auch an den anderen Stränden der Stadt sind Warnschilder aufgestellt, dass man sich bezüglich der Wasserqualität informieren soll. Grund dafür sind vornehmlich E.-coli-Bakterien – als Folge tierischer wie auch menschlicher Ausscheidungen. Das herrlich anzusehende und im Überfluss vorhandene Wasser ist also alles andere als sauber.
Aufgrund der Bakterien wird dem städtischen Trinkwasser, das weitgehend aus dem Ontario-See stammt, Chlor zugesetzt. Im Durchschnitt nur rund 1,2 Milligramm pro Liter, aber das «Erlebnis Ontario» zeichnet sich auch dadurch aus, dass das kostenlose Tafelwasser im Restaurant oder der Schluck aus dem Hahn in Küche und Bad stark nach Chlor schmeckt, man also immer an die Heimat in Form unserer mehr oder weniger gepflegten Hallenbäder erinnert wird. Natur in dem Sinn ist das nicht, genauso wenig wie der Strand, an dem das Schwimmen gesundheitsgefährdend sein kann.

Toronto liegt an drei Flüssen, dem Rouge River im Osten, dem Don River am Rand des Downtown-Bereichs sowie dem Humber im Westen. Wurden andere Wasser­läufe im Stadtgebiet trockengelegt oder überbaut, hat man entlang dieser drei Flüsse ausgedehnte Parkanlagen belassen oder auch gestaltet, die einerseits natürlich der Erholung, andererseits aber dem Auffangen und Abfließen von Schmelzwasser im Frühjahr dienen.
Wie es heißt, stammt der Name der Stadt von einem alten, präkolonialen Sammel- und Handelsplatz im Tal des Humber River, der von den Ureinwohnern «Totoronto = Baumstamm im Fluss» genannt wurde. An einer entsprechenden Informationstafel startet Lisa Gervais vom Redwing Institute ihre geführten «Discovery Walks» durch das Humber-Tal.*
Tagtäglich ist sie hier unterwegs, bewegt sich genau wie das Wasser abwärts Richtung Ontario-See und verfolgt den jahreszeitlichen Wandel von Fluss, Vegetation und Tierwelt. Dabei lässt sie interessierte Begleiter erleben, dass es inmitten von Großstadthektik, Asphalt und schlechter Luft etwas gibt, das einen extremen Gegensatz zu unserem modernen Leben darstellt.

Der Fluss und die umgebende Landschaft zeigen sowohl, was einmal war, als auch, was sein kann. So ist es kein Zufall, dass Lisa immer wieder auf die nordamerikanischen Ureinwohner zu sprechen kommt, in deren Naturverständnis das Wasser seit je her etwas Heiliges ist. Über die spirituelle Bedeutung hinaus hat es aber auch seine ganz praktische, lebensspendende Funktion für alle Menschen, weshalb man nach Meinung indigener Aktivisten anstelle der Nationalhymne lieber den «Water Song» anstimmen sollte, das «Lied vom Wasser», eine beschwörende, zum Andenken mahnende Preisung unserer gefährdeten Lebensgrundlage.**
Der Schöpfungsmythos der Anishinaabe, der ursprünglich rund um die Großen Seen, also auch im Süden Ontarios lebenden First Nation, beschreibt das Entstehen des irdischen Daseins wie folgt: Ein göttliches Wesen, die Himmelsfrau, stürzte nach unten, konnte aber noch eine Handvoll vom Baum des Lebens abreißen, den sie nach ihrer Landung auf einer Schildkröte, auf deren Rücken die bereits anwesenden Tiere vom Grund des umgebenden Wassers extra Erde besorgt hatten, einpflanzte, auf dass er wachsen, gedeihen und alle ernähren konnte. Die Erde, also der Lebensraum aller, wird dementsprechend als «Turtle Island = Schildkröten­insel» bezeichnet und wahrgenommen.
Ein beeindruckendes Bild, wie ich finde, und das umso mehr, als sich diese Vor­stellung auf den gesamten Planeten Erde ausweiten lässt. Wir leben auf einer schwimmenden, uns ernährenden Insel inmitten von Wasser. Sie ist begrenzt, und als temporäre Gäste müssen wir uns nicht nur dieser prekären Lage bewusst sein, sondern das, was uns hier zur Verfügung gestellt wird, dankbar und verantwortlich behandeln. Im südlichen Ontario mit seinem Überfluss an Wasser wird mir das deutlicher als je zuvor vor Augen geführt.