Walther Streffer

Empathie

Nr 235 | Juli 2019

Können sich Tiere in ihre Artgenossen hinein­versetzen? Können sie nachvollziehen, was andere fühlen und vorhaben? Kennen sie Empathie? Diese wichtige soziale Fähigkeit, auch als «theory of mind» bekannt, gilt innerhalb der menschlichen Gesellschaft als maßgebliche Voraussetzung für ein konfliktfreies und kooperatives Miteinander; sie ist in Ansätzen auch im Tierreich zu finden. Charles Darwin hatte bereits von sechs universellen tierischen Emotionen gesprochen: Ärger, Glück, Traurigkeit, Empörung, Angst und Überraschung. Wir wissen heute, dass sich Menschenaffen, Rabenvögel, Papageien, Elefanten und Delphine in ihre Artgenossen hineinversetzen können. Menschenaffen und Rabenvögel können sowohl die Reaktionsweise anderer Individuen vorhersehen und diese täuschen, als auch verhindern, selbst manipuliert zu werden.
Die Fähigkeit, sich in andere hinein­zuversetzen, wird von höheren Wirbeltieren aber nicht nur dazu benutzt, um Artgenossen zu täuschen, sondern auch, um mit ihnen zu kooperieren oder ihnen im Bedarfsfall zu helfen. Thailändische Forscher wollten in einem Experiment feststellen, wie kooperativ sich indische Elefanten verhalten: Zunächst wurden zwölf Tiere darauf trainiert, mit dem Rüssel an einem langen Seil zu ziehen, um so ein außer Reichweite befindliches Holzbrett (mit Futter zur Belohnung) zu sich heranzuholen. Bereits nach einem Tag hatten alle Tiere die Lektion gelernt. Anschließend wurden die Elefanten in sechs Gruppen zu je zwei Tieren eingeteilt. Nun waren an beiden Seiten des Brettes Seile befestigt, und zwar so, dass das Brett nicht mehr von einem einzelnen Elefant zu bewegen war. Innerhalb von zwei Tagen lernten die Elefanten, dass nur gleichzeitiges Ziehen an beiden Seiten das Futter in ihre Reichweite brachte. In der dritten Phase wurde jeweils einer der Dickhäuter verspätet hereingelassen. Man wollte herausfinden, ob der Erste warten oder es allein versuchen würde, ans Futter zu kommen: Meistens zeigten sich die Elefanten geduldig und warteten auf den Artgenossen.
Im vierten Versuch wurden einige potenzielle Helfer daran gehindert, an das Seil zu kommen: Die Tiere unterschieden bereits nach einem Trainingstag genau zwischen Partnern, die ihnen helfen konnten und solchen, die durch einen Zaun daran gehindert waren.
Inzwischen sind noch andere Details über Elefanten bekannt. In Stresssituationen rücken die Gruppenmitglieder instinktiv näher zusammen, sie empfinden Mitleid und versuchen ängstliche Tiere zu beruhigen; sie berühren einander mit dem Rüssel, ähnlich wie Schimpansen oder Menschen, wenn sie jemanden umarmen. Auch Rücksichtnahme ist bekannt: Aus Kenia liegen Berichte vor, dass eine Elefantengruppe während längerer Wanderungen stets auf ein gehbehindertes Weibchen wartete; gelegentlich wurde dieses Tier sogar von der Leitkuh gefüttert. Elefanten zeigen sich auch oft anderen Tieren, beispielsweise einer Schildkröte gegenüber, interessiert und rücksichtsvoll. Und selbst in Zeiten der Not und der Gefahr halten sie innerhalb der
Familienverbände fest zusammen. Ihre Ver­suche, einem sterbenden Artgenossen zu helfen, werden oft noch lange über seinen Tod hinaus fortgesetzt. Sie berühren seine Knochen immer wieder, heben diese auf und tragen sie umher oder bringen sie genau an den Ort zurück, wo der Elefant verendet war – ein Hinweis darauf ist, dass sie die Stelle wiedererkennen, wo einer von ihnen den Tod fand. Ferner wurde beobachtet, dass Elefanten verendete Artgenossen mit Pflanzen, Gras, Ästen und Erde bedeckt haben. Sie empfinden und teilen dies mit ihren Artgenossen.