Albert Vinzens

Der berühmteste Abenteurer

Nr 235 | Juli 2019

Der Nachruf auf den am 20. Juli 1919 geborenen und am 11. Januar 2008 gestorbenen Edmund Hillary in der Neuen Zürcher Zeitung vom 17. Januar 2008 trug den Titel «Mit bescheidenen Fähigkeiten zum berühmtesten Bergsteiger der Welt». Oswald Ölz hätte statt Bergsteiger auch Abenteurer schreiben können. Es gibt berühmtere Bergsteiger mit größeren Fähigkeiten, aber es gibt kaum eine abenteuerlichere Biografie als die von Hillary, der mit 33 Jahren zum ersten Mal am Fuß des 8.848 Meter hohen Mount Everest erschien, zum Gipfel hinaufsah und – zusammen mit Sherpa Tenzing Norgay – siegte. Nach dieser Tat gelangen ihm noch über zwanzig Erstbesteigungen, er stand außerdem als dritter Mann auf dem Südpol und überwinterte einmal auf 5.800 Metern in der Forschungsstation Silver Hunt im Himalaya unter der Ama Dablam, einem der schönsten Berge der Welt. Hillarys vielleicht größte Leistung aber war sein Engagement als Fundraiser. Er gründete den Himalayan Trust und reiste jährlich für mehrere Monate um die Welt, um mit dieser Stiftung Geld für eine modernere Infrastruktur des randständigen Sherpavolks zu organisieren. 1961 wurde durch seine Initiative die erste Schule er­öffnet, 26 weitere folgten. Durch den Himalayan Trust wurden auch zwei Krankenhäuser für die Sherpas, mehrere Kliniken sowie Straßen und Brücken gebaut.

Unmittelbar nach der Everestbesteigung machte sich Hillary einen Namen als Schlichter und Diplomat, denn im Nachspiel des Gipfelerfolgs drohte seine und Tenzings Leistung zwischen England, Indien und Nepal zerrieben zu werden. Da hatten zwei Individualisten einen Traum realisiert, und nun wurden sie von nationalistischen Hässlichkeiten überrollt. Die Everestexpedition 1953 war eine britische Staats­ange­legenheit. Ein Dutzend Engländer herrschte über vierhundertfünfzig Träger und Sherpas. Während die «Sahabs», die weißen Herren, wie sie genannt wurden, mit leichtem Gepäck durch die Landschaft wanderten und Schmetterlinge jagten, schleppten die vielen Träger 13 Tonnen Ausrüstung ins Basislager und durch den gefährlichen Khumbugletscher hinauf in die Hochlager. Die am 2. Juni 1953 frisch gekrönte Königin Elizabeth II. hob den Expeditionsleiter, Oberst John Hunt, und Edmund Hillary, ihren neuseeländischen Untertan, in den Adelsstand. Tenzing, der mit Hillary auf dem Gipfel war, ging leer aus. Im Gegenzug bekam er die höchste Auszeichnung seines Königs, Tribhuwan Bir Bikram Shah, dem weltlichen und geistigen Herrscher von Nepal. Bei König Bikram hatten wiederum Hunt und Hillary das Nachsehen. Die Frage, wer der bessere Kletterer sei und wer als Erster seinen Fuß auf den Everestgipfel gesetzt habe, provozierte einen Konflikt. In Nepal und Indien wurde Tenzing, verehrt wie ein Gott, zum wichtigsten Mann erkoren. Tenzing, der nicht lesen konnte, beging den Fehler, eine von nationalis­tischen Eiferern verfasste Schrift zu unterzeichnen, in der Hillary und er gegeneinander ausgespielt wurden. Hunt verlor die Nerven und ging zum Gegenangriff über. Nur Hillary blieb ruhig. Er behalf sich eines klugen Schachzugs und ließ ein notarielles Dokument aufsetzen, in welchem er und Tenzing versicherten, über diese Frage fortan zu schweigen. Bei der Niederschrift seines Buches Ich stand auf dem Everest achtete er genauestens darauf, dass die Leser keine Rückschlüsse auf die Details ziehen können.

«Ich denke, dass ich ein ziemlich gewöhnlicher Neusee­länder bin, vielleicht nicht sehr schlau, aber entschlossen und praktisch bei dem, was ich tue», meinte der schlaksige Hillary. Er sei ein scheuer, unsportlicher Junge ge­wesen, voller Fantasien und mit Minderwertigkeitsgefühlen, die er auch als Erwachsener noch habe. Erst spät fing Hillary mit dem Bergsteigen in den neuseeländischen Alpen an. Seine große Sehnsucht war der Everest – einfach, weil er da war, eine Herausforderung für Auge und Gemüt. Vielleicht auch, weil sich Hillary durch ihn zum Wettkampf mit sich selbst herausgefordert fühlte, denn «es ist nicht der Berg, den wir bezwingen, sondern uns selbst», schrieb er einmal. Mit dieser Lebensmaxime kam er bis auf den höchsten Gipfel.
Als Expeditionsmitglied war Hillary bei allen beliebt. Fotos mit den Engländern, ihm und Sherpa Tenzing, der auf den Teamfotos als einziger Einheimischer ab­gebildet wurde, zeigen ihn in der Mitte. Der 1,92 Meter hohe Mann mit den großen Ohren, eingefallenen Backen und einer Elvistolle über der Stirn strahlt. Hillary und Tenzing sind sich sympathisch, als Bergsteiger – und wegen der Bienen. Der 39-jährige Tenzing aus dem Bergvolk der Sherpa, das man auch die «Bienenzüchter Tibets» nennt, freute sich, als er vom fünf Jahre jüngeren, 1919 in Auckland geborenen Hillary erfuhr, dass er von Beruf Imker sei.

Als die beiden Engländer Evans und Bourdillon als erste der zwei von Hunt aufgestellten Gipfelmannschaften erfolglos vom Südgipfel zurückkehren und von einem unüberwindlichen Felsen mitten auf dem Weg berichten, stellt sich Hillary mental auf dieses Hindernis ein, und als er mit Tenzing drei Tage später als zweite Gipfelseilschaft die Stelle erreicht, klettert er los und überwindet die 12 Meter hohe senkrechte Stufe. Seither trägt sie den Namen «Hillarystep». Am 29. Mai 1953 steht er mit Tenzing Norgay als erster Mensch auf dem Gipfel.
Auch in der Nacht vor dem Gipfelgang hat Hillary Nerven und gesunden Menschenverstand bewiesen. Im höchst­gelegenen Lager, das je von Menschen in Richtung Stratosphäre vorgetrieben wurde, kauerte er halb aufgerichtet in Unterhemd, Wollweste, Shetland-Pullover, Wollhemd, langen Wollunterhosen, zwei Paar Woll­socken, Daunenjacke, Daunenhosen, Wind­schutzjacke, Sturmhose und drei Paar Handschuhen übereinander in einem kleinen Zelt auf über 8.000 Metern Höhe. Während Tenzing über den Anfechtungen dieser Nacht fast den Verstand verlor – er war überzeugt, dass er am nächsten Tag, sollte er den Gipfel erreichen, den Göttern begegnen werde –, berechnete Hillary pragmatisch die Gesamtfüllmenge der herumliegenden Sauerstoffflaschen und organisierte das Menu für den Gipfelgang. In seinem Buch wird es an dieser Stelle geradezu poetisch: «Da ich die meisten der Sturmrationen gründlich hasste, fügte ich hinzu, was mir schmeckte: zwei Päckchen Datteln, zwei Dosen Sardinen, Honig, Zitronenpulver und als Köstlichstes von allem eine Dose mit Aprikosen in Sirup.» Der Wille, diese Lebensmittel, zusätzlich zu allem anderen Material, bis zum Endpunkt zu schleppen, beweist Hillarys Optimismus; sie dort oben in der Todeszone, wo andere nichts mehr zu sich nehmen und nur noch spucken und röcheln, auch noch gegessen zu haben, macht ihn beinahe unsterblich.