Maria A. Kafitz

Erlesene Reisebegleitung

Nr 236 | August 2019

Manchmal gehen Wirklichkeit und Fiktion eine Liaison mit­einander ein. Manchmal plant man vorfreudig eine Reise, packt quasi schon die Koffer, und auf dem Verlagsschreibtisch landet ein Manuskript, dessen Geschichte dort angesiedelt ist, wohin man sich in ein paar Tagen auf den Weg machen wird.
Mitnehmen?
Liegen lassen?
Mitnehmen!
Die Entscheidung war ähnlich schnell gefallen wie zuvor jene fürs Reiseziel, da es dem Autor Dimitri Verhulst – dank der Übersetzung von Rainer Kersten – schon auf den ersten Seiten gelang, mich dort zu packen, wo ich ungern Widerstand leiste: bei meiner Neugierde. Und bei meiner Neigung zu traurigen Geschichten. Verhulst, so viel wusste ich bereits über ihn, stachelt gerne mit seinen provokanten und doch poetischen Texten zum Hinterfragen des Vertrauten an, weil er will, dass «Literatur der Ort ist, an dem man neue Themen und neue Tabus entdeckt», wie er es in einem Interview im Magazin ekultura sagte. Ich wollte daher nicht erst nach meiner Rückkehr erfahren, was sich hinter dem Titel Den Sommer kannst du auch nicht aufhalten verbarg. Und so kamen Pierre, Anfang 60, ausnahmslos allen weltlichen Genüssen zu- und in gleichem Maße gesellschaft­lichen Konventionen abgeneigt, und Sonny, fast 16, mehrfach behindert und Sohn der großen, wilden und tragischen Liebe von Pierre, mit ins Gepäck.

Sie reisten also wieder – diesmal als meine Begleiter – in den hinreißend schönen Südosten Frankreichs, in dem sich wilde Schluchten mit sanften Hügeln abwechseln und ein UNESCO-Weltkulturerbe ans nächste reiht. Und sie kamen so erneut nach Avignon – jener Stadt, in der Sonnys Mutter und Pierre Pläne für eine gemeinsame Zukunft ausheckten und sich innig-leidenschaftlich liebten. Ich drehte mich mit ihnen zwar nicht zum Ohrwurm «Sur le pont d’ Avignon» auf der weltberühmten Brücke Saint-Bénézet, dafür wunderten wir uns aber über den mächtigen ehemaligen Papstpalast, der mehr einer Trutzburg denn einem Gotteshaus gleicht. Gemeinsam schlenderten wir weiter durch die Gassen – vorbei an den großen und unzähligen kleinen Theatern, die das kulturelle Leben dieser Stadt auch jenseits des 1947 gegründeten und seither jährlich in den letzten drei Juliwochen stattfindenden renommierten Festival d’Avignon prägen. In unmittelbarer Nähe des Théâtre des Corps Saints fand ich schließlich tatsächlich auch das Balthazar, in dem Pierre trotz der mittäglichen Sommerhitze sicher um­gehend gleich mehrere Gläser Wein bestellt hätte. Ich genoss stattdessen bei einem Kaffee und Wasser die reizvolle Verschränkung von Wirklichkeit und Fiktion: «Das Balthazar war immer noch an der alten Stelle und sah auch immer noch genauso aus, mit gelben Markisen, unter denen Pierre sich bei jedem Besuch geradewegs in einem Gemälde von van Gogh gefühlt hatte.»
Die Markisen waren zwar nicht mehr gelb, leuchteten dafür aber runderneuert in sattem Rotweinrot, was Pierre vermutlich zu einem traurigen Toast veranlasst hätte. «Die Erinnerung erinnert sich an mich; ich lebe und bin damit Vergangenheit», lässt ihn Verhulst nach dem wehmütigen Besuch mit Sonny im Balthazar abends ins Notizbuch schreiben.
Ich verband glücklicherweise keine schmerzlichen Erinnerungen mit Avignon – und so waren meine Stunden dort getragen von der heiteren Stimmung im Café, in dem ich noch Stunden hätte sitzen können, um die Paare und Einzelgänger, die Touristen und Geschäftsleute an den Tischen zu beobachten und mir dabei vorzustellen, wie sie wohl reagieren würden, wenn Pierre tatsächlich gleich lamentierend um die Ecke gebogen käme, während er Sonny im Rollstuhl übers holprige Kopfsteinpflaster ruckelt …
Doch es wurde langsam Zeit für mein eigentliches Reiseziel, das rund 50 Kilometer nordwestlich ge­legene Städtchen Uzès, das ich Verhulst gerne ins Manuskript geschrieben hätte. Es besitzt so viel Charme und ja, durchaus auch reichlich Romantik, ist dennoch unkitschig und trotz seines wieder­kehrenden Film­kulissendaseins (u.a. Cyrano de Bergerac mit Gérard Dépardieu wurden hier gedreht) lebendig und zugleich unaufgeregt, dass seine ungewöhnlichen Protagonisten und ihre Geschichte dort wunderbar hingepasst hätten.

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Fotos: © Sebastian Hoch | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

Andere Literaten haben Uzès bedacht, so beispielsweise Jean Baptiste Racine (1639–1699), der Großmeister der französischen Klassik, der in seinen Briefen aus Uzès Zeugnis vom damaligen Leben, von den Bräuchen, aber auch von den politischen und religiösen Verwicklungen ablegt. Oder der Literatur­nobel­preisträger André Gide (1869–1951), dessen Großeltern in Uzès lebten, bei denen er manch heißen Sommer verbrachte. In seinem autobiographischen Roman Stirb und Werde kehrt er an den Ort seiner Kindheit zurück. Anlässlich seines 150. Geburtstags feiern sie ihn 2019 dort mit Lesungen und der Ausstellung Les 1000 visages d’André Gide. 1926 notierte er: «Ach, mein kleines Uzès! Lägest du in Umbrien, dann würden die Touristen aus Paris angereist kommen, um dich zu sehen!»
Doch die nur rund 8.000 Einwohner zählende Kleinstadt liegt nicht in Umbrien, sondern sie thront – gesäumt von Weinbergen, Olivenhainen und Platanenalleen – auf einem Hügel im Département Gard im Languedoc. An Touristen mangelt es dem Städtchen dennoch nicht, was an der Schönheit von Landschaft und Architektur liegt, vor allem aber an der aktiven und rührigen Stadtverwaltung und den Bürgerinnen und Bürgern, die das ganze Jahr hindurch das Gemeindeleben überaus abwechslungsreich gestalten. Das Fest samt Ausstellung rund um André Gide ist nämlich kein singuläres Sonderereignis, das nur alle Jubeljahre mal stattfindet. Nein. Wer einen Blick in den Kultur- und Veranstaltungskalender der Stadt wirft, staunt, was in diesem eigentlich kleinen Ort alles los ist: ob Floh- oder Antiquitätenmärkte, ob Lesungen oder Aus­stellungen aller Kunst- und Stil­richtungen, ob Konzerte von Pop bis Klassik oder Tangotanz im Mondschein, ob Nachtmärkte oder Sommerkinoabende – für alle Interessenslagen ist etwas dabei.

Und das Schönste daran ist: All dies ist nicht nur für die Besucher gedacht, die meist nach einem Tag wieder verschwinden, sondern vor allem auch für die Menschen, die hier leben und arbeiten. Sie sind wesentlicher Teil all dieser Aktivitäten – und das nicht nur, weil ihre zahlreichen Läden und hübschen Cafés, ihre gepflegten Hinterhöfe und üppig blühenden Gärten stadtumspannende Ausstellungs- oder Veranstaltungsflächen sind. Sie sind Mitgestalter ihrer Stadt, wie es mir die Schwestern Carla und Pauline vom reizenden Café Aust erzählen, in dem die beiden seit Anfang 2018 ihre Leidenschaft für Kuchen & Co. ausleben und ständig neue Kreationen in der kleinen Backstube ausprobieren, während die Räume ihres Cafés für Wechselaus­- stellungen oder Lesungen vom Eröffnungstag an fester Bestandteil des kulturellen Geschehens wurden.
Aber auch jenseits dieser hier scheinbar «normalen Sonderaktivitäten», die das Leben immer etwas aufregender machen, ist Uzès ein überaus anregender Ort, der zudem auf eine lange Geschichte zurückblickt: Bereits um 450 v. Chr. als keltisches Oppidum (eine befestigte Siedlung) gegründet und später als römisches Militär­lager ausgebaut, entwickelte sich Castrum Ucetiense im 5. Jahrhundert zu einer Stadt mit regem und florierendem Handel, die in den spätantiken Urkunden bereits als Bischofssitz verzeichnet wurde und dies bis zur Französischen Revolution blieb. Und noch eine weitere historische Be­sonderheit weist diese kleine Stadt auf, denn 1632 wurde sie zur «Premier Duché de France» ernannt, zum ersten Herzogtum Frankreichs. Auch diesbezüglich veränderte die Revolution im Lauf der Geschichte die privilegierten Befugnisse zwar nachhaltig, aber der Nachkomme des ehemaligen Herzogs residiert mit seiner Familie Crussol d’Uzès noch heute regelmäßig in seinem prachtvollen Ahnensitz, hisst dann als Zeichen die Fahne seiner einst mächtigen Vorfahren und lässt sich ansonsten die Besichtigung seines ver­winkelten Anwesens mit dem hübschen Innenhof und der Renaissancefassade samt Aussichtsturm teuer bezahlen.

Ein günstigerer und für einen prächtigen Panoramablick über die ganze Stadt bestens geeigneter Aussichtspunkt ist der Tour du Roi, der allerdings nur konditionsstarken und vor allem schwindelfreien Personen empfohlen sei. Er befindet sich im heutigen Jardin Médiéval d’Uzès, einem liebevoll angelegten Kräuter- und Heilpflanzengarten, der wie eine stille Oase mitten in der Stadt liegt. Am Rand der Stadt steht ein weiterer bemerkenswerter Turm, der für ganz Frankreich einzigartig ist: der 42 Meter hohe romanische, über fünf Stockwerke mit Bogenöffnungen gestaltete Tour Fénestrelle. Der Glockenturm gehört zur einstigen mittelalterlichen Kathedrale St. Theodorit, die nach der Zerstörung im 17. Jahrhundert durch einen Neubau ersetzt werden musste; er ist der einzige freistehende Rundturm der Grande Nation und das Wahrzeichen von Uzès.
Von hier aus kann, wer Ruhe und menschenleere Natur sucht, einen Spazier­gang durch die bewaldeten Hügel ins Tal zu jener Quelle unternehmen, deren Wasser bereits von den findigen Römern in der Antike über den legendären Pont du Gard bis nach Nîmes geleitet wurde.

Mich zieht es nach einem kleinen Bummel durch die in den frühen Abendstunden meist ein­samen engen Seiten­gassen, deren hübsche Häuser mit zartbunten Fensterläden geschmückt sind, zum Ausklang meiner Uzès-Tage ins Herz der Stadt: zum Place aux Herbes. Auf diesem von Arkaden umsäumten Platz möchte man mittwochs und samstags an den Marktständen am liebsten gleich für mehrere Leben einkaufen und vergisst abends in den Cafés und Restaurants für einen Augenblick manche Mühen und Verletzungen des Lebens. Ich nehme das Manuskript aus der Tasche, bestelle nach dem Kaffee doch noch ein Glas Rosé, proste Pierre und Sonny zu und beginne, die letzten Seiten zu lesen.