Titelbild Hochformat

Anke Klaaßen

Von Wurzeln und Flügeln

Nr 236 | August 2019

Bevor unsere Kinder zur Welt kamen, flogen durch meine Drehbücher und Geschichten auffallend viele Vögel, Libellen, Fledermäuse und geflügelte Menschen. Und auch ich selbst ließ mich immer wieder wie ein Zugvogel durch die Länder treiben. Die Flügel meines Fernwehs trugen mich und mein Notizbuch vom Bodensee über den malaysischen Regenwald bis in die Weite der mongolischen Steppe. Ich folgte der Zugvogelroute der Kraniche durch Frankreich und Spanien bis zur Meeres­enge von Gibraltar. Zurück in Deutschland tauschte ich meine Wohnung gegen einen kleinen Campingbus namens Fuchur – auch ein Flugtier, benannt nach dem Glücks­drachen aus der Unendlichen Geschichte von Michael Ende. Ein rollender Schreibtisch sozusagen, mit einem Fenster, dessen Ausschnitt ich jeden Tag neu bestimmen konnte.
Dem Schreiben am klassischen Schreibtisch – und sei er im Drachenbauch – geht bei mir meist eine lange Zeit der «Freiluftschreiberei» voraus, eine Zeit des Sammelns und Zuhörens, in der Stadt, aber vor allem in der Natur. Und irgendwann kommt der Tag, an dem sich alles langsam zu einer Geschichte fügt. Das Strandgut, die gesammelten Worte vom Wegesrand verweben sich mit meinen eigenen Gedanken zu etwas Neuem.
So war es auch bei Das Nebelmännle vom Bodensee. Der Bodensee war der Ort, an den ich oft zurückkehrte, auf den ich mich aber trotzdem nicht als festen Wohnort festlegen wollte. Bis unsere Tochter zur Welt kam. Mit ihr begannen Bäume in meinen Geschichten zu wachsen und in mir das Bedürfnis, meine Familie an diesem Ort zu verwurzeln. Wir kletterten auf Buchen und Eichen, spielten mit Regenwürmern und Blindschleichen. Wir säten, sahen den Pflanzen beim Wachsen zu und ernteten. Gleichzeitig begann ich Geschichten zu lesen, die nur hier hatten ent­stehen können, denn jedes Stück Erde erzählt seine eigenen Sagen und Märchen und gebiert seine eigenen magischen Gestalten. Viele stammen aus einer vorschriftlichen Zeit, verblichen durch das Wieder- und Wieder­erzählen und Aufschreiben. Und trotzdem glänzt ihr Kern bis heute. Bald fand mich eine kurze, kleine Sage, etwas spröde und lückenhaft – und doch leuchtete sie mir entgegen: Die Sage vom Nebelmännle, einem Naturgeist, der am Bodensee den Nebel macht. Ich wusste sofort, dieses Nebelmännle, das wollte ich aus der Vergessenheit befreien. Im Fastnachtsbrauchtum ist es noch zu finden, doch die Kinder kennen seine Geschichte kaum noch. Aber sind es nicht gerade Wesen wie das Nebel­männle, die magische Verkörperung der Natur, die uns mit der Wildnis draußen vor unseren verschlossenen Häusern verbinden können? Sie verwurzeln. Und sie lassen uns fühlen, dass die Erde unsere Achtsamkeit und Fürsorge genauso braucht wie wir die ihrige.
Ich habe den Bodenseenebel schon immer geliebt mit seiner Fähigkeit, Geheimnisse zu hüten und an anderer Stelle zu enthüllen. An der Grenze von Nebel und Sonne taucht er die Welt in ein funkelndes Zauberlicht und lässt sie gereinigt zurück. Aus der kurzen Sage wuchs an meinem Schreibtisch bald ein märchen­hafter Kosmos von Naturgeistern und Rittern, in den vieles miteinfloss, was den Bodensee für mich so einzigartig macht. Und während ich am Buch schrieb, erwachte das Nebelmännle tatsächlich zu neuem Leben: Eines Morgens saß unsere Tochter mit großen Augen am Fenster und zeigte auf den Nebel, der alles da draußen verschwinden ließ: «Mama, das Nebelmännle nebelt wieder!»
Gerade fällt mir auf: Fliegen kann das Nebelmännle ja auch, trotz oder vielleicht gerade wegen seiner Verwurzelung …