Walther Streffer

Geplante Täuschungsaktion

Nr 237 | September 2019

Schimpansen können Artgenossen mani­pulieren – und sie achten auch darauf, nicht selbst manipuliert zu werden. Sie scheinen sich vorstellen zu können, wie ein Artgenosse in einer bestimmten Situation handeln würde. Nach einer wissenschaftlichen Studie, die auf jahrelange Beobachtungen zurückgeht, kann ein Schimpanse sogar eine Täuschung planen und die daraus folgenden Reaktionen vor­hersehen. Davon soll hier berichtet werden, und zwar ohne jene moralische Wertung, zu der wir Menschen so leicht neigen.
Der 1978 in München geborene Schimpansenmann Santino lebt zusammen mit einigen Weibchen und Jungtieren im Tierpark von Furuvik an der schwedischen Ostseeküste. Sein Gehege besteht aus Wiese, Gebüsch, Felsbrocken, liegenden Baumstämmen und einem überdachten Innenbereich, zu dem die Tiere direkten Zugang haben. Die sogenannte Schimpansen-Insel ist von einer Steinwand umgeben. Besucher sind von den Affen durch einen Wassergraben getrennt. Santino wurde auffällig, als er begann, Zoobesucher mit Steinen zu bewerfen. Das war 1997 und steigerte sich im Lauf der Jahre. 2009 gab es bereits mehrere hundert Steinwurf-Attacken. Es wird von verschiedenen Phasen der Entwicklung berichtet: Anfangs rannte der Schimpanse jeweils schreiend und mit gesträubten Haaren auf die Tierparkbe­sucher zu. Als diese sich von dem männlichen Imponiergehabe nicht beeindruckt zeigten, begann er damit, Steine zu werfen. Später sammelte er morgens, bevor der Zoo öffnete, in aller Ruhe Steine und häufte sie aufein­ander. Im Verlauf des Tages griff er damit dann die Besucher des Tierparks an.
Als dem Affen die Steine ausgingen, beobachteten die Tierpfleger wie Santino begann, die Flächen der gemauerten Wand nach Hohlstellen abzuklopfen. Er brach Stein­brocken heraus, zerschlug diese und stapelte sie in der Nähe des Wassergrabens. Jedes Mal, wenn der Affe mit seinen Wurfgeschossen bewaffnet auf die Besucher zustürmte, zogen diese sich rasch zurück oder wurden von Zooführern abgedrängt. Nach dieser aggressiven Anfangsphase veränderte der Schimpanse seine Taktik. Er schlenderte von der Mitte des Inselgeheges mit zwei Steinen in den Händen auf die Besuchergruppe zu und signalisierte einmal sogar seine «friedlichen Absichten» dadurch, dass er auf dem Weg gemächlich einen Apfel aus dem Wasser fischte und in diesen, während er sich weiter den Besuchern näherte, hineinbiss. Umso größer war der Überraschungseffekt, als Santino in Reichweite urplötzlich angriff und die Besucher bewarf.
Daraufhin versuchte es der Schimpanse mit einer deutlich komplexeren Strategie, nämlich seine Geschosse bis zum Angriff in geheimen Lagern zu horten. Er versteckte die Steine im Gras, unter Heuhaufen oder hinter einem liegenden Baumstamm. Über 50 Verstecke räumten die Pfleger im Lauf der Zeit aus. Das auffällige neue Verhalten des Schimpansen spricht nach Ansicht der Wissenschaftler für eine konkrete Täuschungs­- absicht, denn Santino versteckte nun seine Munitionslager gezielt vor den Blicken der Zoobesucher. Er füllte seine Arsenale nur auf, wenn der Tierpark geschlossen war, wenn er sich also unbeobachtet fühlte. Morgens setzte er sich, seine Aggressionen beherrschend, neben ein Versteck in der Nähe des Wassergrabens und wartete scheinbar entspannt auf die Besucher. Seine Überraschungsangriffe startete er jeweils in dem Moment, wenn sich die Opfer gerade zurückziehen wollten! – Dass es sich bei diesem erwachsenen Schimpansen um ein außergewöhnliches Indi­viduum handelt, demonstriert auch die Tatsache, dass Santino in die letzte gedruckte Ausgabe der 32-bändigen, weltberühmten Encyclopaedia Britannica (2010) aufgenommen wurde.