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Lari Don

Mindblind

Nr 237 | September 2019

gelesen von Simone Lambert

Dies ist eine Road Novel, ein Verfolgungskrimi und ein doppelperspektivischer Coming-of-Age-Roman, in dem es um nichts weniger als alles geht: Leben oder Tod.
Ein Mädchen ist getötet worden und Ciaran Bain fühlt sich dafür verantwortlich. Der Vierzehnjährige lebt mit seinem Clan in Schottland. Seit Generationen können die Bains Gedanken lesen; sie nutzen diese Fähigkeit äußerst lukrativ, um für kriminelle Auftraggeber Gegner auszuspionieren. Doch dies­es Mal töten sie ein junges Mädchen aus eigenem Interesse: Vivien Shaw ist möglicherweise im Besitz der wissenschaftlichen Forschungs­unterlagen, die ihre Urgroßmutter in den vierziger Jahren über Menschen mit ange­blichen mentalen Fähigkeiten erstellt hat. Unter anderem über Ciarans Großvater, der vergeblich versuchte, sich hinter falschen Antworten zu verstecken. Nun lebt die Familie in der Furcht vor Aufdeckung der Klarnamen und Verfolgung durch die Medien und den Geheimdienst.
Ciaran, der in dieser Sache einen entscheidenden Fehler gemacht hat, beschließt, den USB-Stick mit dem belastenden Material zu finden, um seiner Familie zu beweisen, dass er etwas taugt – und sich selbst, dass er in der fremden Welt der Mindblinds, wie die Nicht-Gedanken-Leser von den Bains genannt werden, überleben kann.
Denn Ciaran, der ein sehr guter Leser ist, hat ein Problem – eine Schwäche in den Augen seiner Familie: er empfindet die Gefühle der Observierten so stark, dass es ihn niederdrückt. Während die anderen den fremden Geist zwar lesen können, aber von den Empfindungen unberührt bleiben und auch kein Gewissen
zeigen, muss Ciaran sich fernhalten, um sich zu schützen – nicht aus Mitgefühl mit den Opfern, sondern weil er sonst deren Qualen durchlebt.
Gegen seinen Willen heftet sich Lucy, Viviens höchst lebendige und wagemutige Schwester, an seine Fersen. Beide suchen nun aus unterschiedlichen Motiven den Stick. Lucy ihrerseits will den Mord an ihrer Schwester aufklären und rächen. Ciaran und Lucy stehen in einer ambivalenten Beziehung: sie sind Feinde, ohne sich wirklich unsympathisch zu sein. Aufeinander angewiesen, müssen sie sich vertrauen.
Der Roman ist bizarr, weil Ciarans Perspektive so fremdartig ist. Einerseits verschafft ihm die Gabe immer wieder einen Vorsprung, weil er weiß, was die anderen denken und fühlen, andererseits wird er zum Gefangenen und Gejagten, denn seine Familie ist ihm auf den Fersen und ebenso in der Lage, seine Nähe zu erfassen, wie er ihre. Er kann nur in Winkelzügen planen und handeln. Und er muss seine Gedanken absolut kontrollieren, um nicht gefunden zu werden.
«Ich habe festgestellt, dass man die Gedanken anderer Menschen schlechter zu fassen bekommt, wenn sie ein Buch lesen oder sich eine DVD ansehen, als wenn sie … mit ihrem Handy spielen.» Ciarans Beobachtung drängt dem Leser eine Analogie auf zu den sozialen Medien, deren Datensammlungen auch eine gewisse Art von Ge­dankenüberwachung er­möglichen. Der teilweise düstere und dystopische Charakter mancher Szenen steht im Kontrast zu Lucys erfrischender, direkter Art. In einem dramatischen Showdown erobert sich Ciaran Respekt – ungefährdet geht er allerdings nicht zurück zu seiner Familie.
Das ist ein ungewöhnlicher Plot und ein hochspannender Roman, der Lari Don da gelungen ist. Offene Fragen und unaufgelöste Widersprüche lassen die faszinierte Leserin auf eine Fortsetzung der Geschichte hoffen.