Das Leben und seine Schicksalsbücher

Nr 238 | Oktober 2019

Liebe Leserin, lieber Leser!
Bücher haben ihre Schicksale. Das habe ich hin und wieder gehört. Wie und wann sie in ihrer Bedeutung wahr­genommen werden, ist mitunter sehr verschieden. Besonders die großen Werke der Literatur oder der Philosophie entfalten ihre Wirksamkeit in unterschiedlicher Weise und nicht selten zu anderen Zeiten als zum Zeitpunkt ihres Erscheinens: Sie haben ihre jeweils eigene «Biografie».
Als der Roman Das goldene Notizbuch von Doris Lessing 1962 erstmalig auf Englisch unter dem Titel The Golden Notebook erschien, wurde er als Beitrag zum sogenannten «Geschlechterkrieg» wahrgenommen und gilt landläufig als Klassiker der feministischen Literatur. Die vor hundert Jahren am 22. Oktober 1919 in Kermanschah in Persien als Doris May Tayler geborene britische Autorin hatte ab 1925 mit ihren Eltern mehrere Jahre in Südrhodesien (heute Simbabwe) gelebt und heiratete 1939 Frank Charles Wisdom, mit dem sie einen ersten Sohn und eine Tochter hatte. 1943 ließ sie sich von ihm scheiden, um 1945 eine Ehe mit dem deutschen Emigranten Gottfried Lessing einzugehen, mit dem sie zwei Jahre später Peter, einen weiteren Sohn bekam. Mit Peter siedelte sie nach einer erneuten Scheidung 1949 nach England um, wo 1950 ihr erstes Buch, der Roman The Grass is Singing (Afrikanische Tragödie) erschien. Ein drittes Mal heiratete sie nicht mehr. Ihr Sohn Peter aber lebte bis zu seinem Tod bei ihr. Viele Jahre hatte sie ihn wegen seiner schwerwiegenden Diabetes gepflegt. Drei Wochen nach seinem Tod starb sie selbst am 17. November 2013 in London. Diese wenigen Eckdaten lassen bereits erahnen, dass Doris Lessing ein wechselvolles Schicksal mit Männern gehabt haben muss, das auch für ihren Roman Das goldene Notizbuch mitprägend war. Vielleicht – das muss ich mir selbst irgendwie vorwerfen – war dieser Nimbus, ein «Klassiker der feministischen Literatur» zu sein, ein Grund dafür, dass ich ihr renommiertestes Werk bisher nicht gelesen habe. Selbst nicht nach der Bekanntgabe am 11. Oktober 2007, dass ihr der Nobelpreis für Literatur verliehen wird. Aber ich erinnere mich noch, wie ein Foto der so sympathisch erscheinenden achtundachtzigjährigen Autorin – auf den Stufen zu ihrer Haustür sitzend und umzingelt von Hunderten eifrigen Journalisten und Fotografen am Tag der Bekanntgabe der Verleihung des Nobelpreises – überall veröffentlicht wurde. Zu einem ihrer Bücher griff ich dennoch nicht … Bis ich jetzt endlich im Hinblick auf ihren hundertsten Geburtstag tatsächlich Das goldene Notizbuch in die Hand nahm und das im Juni 1971 hinzugefügte großartige Vorwort erschüttert wie elektrisiert las. Eigentlich wäre schon die Form dieses Romans Grund genug, ihn zu lesen: eine «konventionelle» Geschichte um Anna Wulf, eine an Schreibblockade leidende geschiedene, alleinerziehende Schriftstellerin, deren fünf Teile von Abschnitten aus vier Notizbüchern unterbrochen werden (einem schwarzen, roten, gelben und blauen), die jeweils von ihrem Leben als Schriftstellerin, als politisch Engagierte, als emotional Verstrickte und als das Alltägliche Erlebende erzählen. Vor dem fünften Teil wird aber zudem aus einem weiteren «Goldenen Notizbuch» zitiert, das ineinanderfließend von der Protagonistin Anna Wulf und einem Mann geschrieben wird – und dieses führt alles zu einem Ganzen zusammen! «Don’t read a book out of its right time for you»*, ermahnt Doris Lessing uns Lesende in ihrem Vorwort zur Neuausgabe ihres Romans 1972. Habe ich den richtigen Zeitpunkt für das Lesen dieses Schicksalsbuches verpasst? – Ich hoffe, liebe Leserin, lieber Leser, dass Sie nicht allzu oft ein solches Versäumnis begehen!

Von Herzen grüßt Sie in diesem Monat der Frankfurter Buchmesse, den wir zum Anlass nehmen, den 20. Jahrgang unseres Lebensmagazins a tempo mit dieser erweiterten Jubiläumsausgabe mit Ihnen zusammen zu feiern!
Ihr

Jean-Claude Lin


*«Lies kein Buch, wenn nicht die Zeit dafür gekommen ist.» Doris Lessing, Das goldene Notizbuch. Aus dem Englischen von Iris Wagner, erschienen im Fischer Taschenbuch Verlag, 20. Auflage 2013.

Während der Buchmesse (16. – 20. Oktober) freuen wir uns natürlich über Besuche von Leserinnen und Lesern bei uns in Halle 3.1, D 55