Maja Lunde im Gespräch mit Antje Subey-Cramer

Wissen führt zu Handlung

Nr 238 | Oktober 2019

Ein fester Händedruck, ein freundlicher, offener Blick, konzentriert und überlegt bei der Beantwortung der Fragen – so begegnet einem Maja Lunde im Gespräch. Seitdem die Norwegerin mit ihrem Buch «Die Geschichte die Bienen» ihren literarischen Durchbruch feierte, ist sie nicht nur einer weltweiten Leserschaft bekannt, sie ist auch eine gefragte Interviewpartnerin zum Thema Klimawandel. Man bekommt den Eindruck: Eine bessere Fürsprecherin kann die Natur kaum haben.

Antje Subey-Cramer | Liebe Frau Lunde, im Mai diesen Jahres veröffentlichte die UN einen Bericht, demzufolge eine Million Tier- und Pflanzenarten akut vom Aus­sterben bedroht sind. Das Artensterben an sich ist keine Neuigkeit, dennoch erschreckt die hohe Zahl. In einer deutschen Zeitung hieß es dazu: «Der miserable Zustand von Flora, Fauna und Klima spiegelt wider, wie wir Menschen sind. Unsere Maßlosigkeit.» Sie haben sich selbst mit diesem Thema intensiv beschäftigt: Ist das auch Ihre Diagnose, können wir gar nicht anders?
Maja Lunde | Die Menschheit kann es besser. Und es gibt sehr, sehr viele Beispiele dafür, wo wir das Richtige tun. Ich denke da an all die Menschen, die tatsächlich jeden Tag dafür arbeiten, die Erde zu bewahren, Arten zu bewahren. Mein neuer Roman (Die letzten ihrer Art, erscheint im Oktober 2019 auch in Deutschland; Anm. der Redaktion) handelt unter anderem vom Wiederauferstehen einer beinahe ausgestorbenen Art. Wir können, wenn wir wollen – und wenn wir es begreifen. Ich denke, vieles beginnt mit Wissen. Wir müssen verstehen, was an unserem Tun zerstörerisch wirkt – und wie es zerstört. Zudem müssen wir uns bewusst machen, dass auch unsere kleinen Entscheidungen einen enorm großen Einfluss haben. Die menschliche Entwicklung besteht aus der Summe kleiner Entscheidungen. Wissen führt zu Handlung. Das gilt für jeden Einzelnen, jede Einzelne von uns, es gilt aber nicht zuletzt auch für unsere Politiker. Das, was wir brauchen, sind Politiker, die die Zukunft an erste Stelle setzen – das, was in zehn, zwanzig, hundert Jahren auf uns zukommt. Was wir nicht brauchen, ist Kurzsichtigkeit.

ASC | In Deutschland haben sich im vergangenen Schuljahr viele Schüler und Schülerinnen an den Friday-for-Future-Demonstrationen beteiligt. Zum Teil mussten sie sich gegen den Vorwurf wehren, schlicht Schulschwänzer zu sein. Sie haben selbst drei Kinder. Verstehen Sie die Ängste dieser Generation? Welche Schritte wären Ihrer Meinung nach notwendig, um das Ruder noch herumzudrehen?
ML | Ich habe meine Kinder selbst zu den Demonstrationen begleitet. Zwei von ihnen waren noch zu klein, um allein zu gehen. Ich unterstütze den Schulstreik aus tiefstem Herzen und verstehe sehr, sehr gut, dass Kinder und Jugendliche für eine bessere Zukunft demonstrieren. Sie fürchten die Zukunft – zu Recht. Die Zeit ist überreif für große Veränderungen. Die Klima- und Naturkatastrophe ist nicht etwas, was vor uns liegt, sie ist bereits da. Jetzt. Jeden Tag sterben Arten wegen uns aus, jeden Tag verschlechtern sich die Lebensbedingungen auf der Erde für Mensch und Tier. Wir sind dabei, unsere eigene Lebensgrundlage zu zerstören, und wir sind dabei, diesen schönen Planeten ärmer zu machen. Die Erde ist das Resultat unglaublich vieler biologischer Zufälle und Zusammentreffen, wir kennen keine anderen Planeten, auf denen es ein Leben wie bei uns gibt. Es ist ein unglaublich schöner und reicher Planet, er ist einzigartig. Diesen Planeten für die Nachkommen all der faszinierenden Wesen, die hier leben, zu erhalten, ist unendlich viel wichtiger als wirtschaftliches Wachstum und kurzsichtiger Profit. Wachstum, Wohlstand und Fortschritt sollten nicht in Geld gemessen werden, sondern in Natur. Wie ist der Zustand der Natur – besser als vor zehn Jahren? Wie hat sich die Wasser- und Luftqualität verbessert, um wie viel ist die Artenvielfalt angewachsen, wie viel Müll und Plastik haben wir weggeräumt? Wirtschaft­liches Wachstum sollte durch grünes Wachstum ersetzt werden. Und wir brauchen – wie gesagt – Politiker, die die Natur vor­rangig behandeln, die sie an erste Stelle setzen, und zwar bei jeder einzelnen Entscheidung, die sie fällen. Indem man die Natur an die erste Stelle setzt, setzt man auch den Menschen an die erste Stelle. Wir sind ja auch Natur – wir vergessen das nur oft.

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Fotos: © Wolfgang Schmidt | www.wolfgang-schmidt-foto.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

ASC | Schreiben ist schon lange Ihr Beruf, viele Jahre haben Sie aber eher «hinter den Kulissen gearbeitet», haben Dreh­bücher für Filme und Kindersendungen entwickelnt und geschrieben. Mit Die Geschichte der Bienen gelang Ihnen der große Durchbruch. Ihr Debut in Norwegen aber war ein Kinderbuch, Über die Grenze. Es handelt von zwei jüdischen Kinder, die aus dem von den deutschen Nationalsozialisten besetzten Norwegen fliehen müssen. Für Kinder ein eher schwieriges Thema. Was war Ihre Motivation, das Thema der Okkupationszeit für Kinder aufzubereiten?
ML | Über die Grenze hat einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen. Ich bin herumgereist und habe mit um die 5.000 Zehnjährigen über dieses Buch gesprochen, und ich habe dabei erfahren, dass sie dieses Thema sehr interessiert. Die kulturellen Ereignisse, die man als Kind erlebt, hinterlassen tiefere Spuren als irgend­etwas anderes. Das ist einer der Gründe, warum Kinderkultur so wichtig für mich ist. Dass mir gerade dieses Buch so viel bedeutet, hat nichts damit zu tun, dass es mein erstes Kinderbuch ist. Es hat mit der Thematik der Geschichte zu tun. Eine Thematik, die seit dem Erscheinen des Buches 2012 erschreckend aktuell geworden ist. Als ich mit der Arbeit an dem Roman begann, war das Ziel, eine Geschichte aus dem Krieg zu erzählen – aus unserer näheren Vergangenheit und für Kinder. In erster Linie, weil es für diese Zielgruppe so wenige Bücher über diese Zeit gab, aber auch, weil ich selbst schon seit meiner Kindheit ein großes Interesse an dieser Zeit, am Zweiten Weltkrieg habe.
Im Laufe der letzten Jahre hat sich jedoch die Relevanz der Geschichte verändert. Leider. Dieser Tage wird die Verfilmung des Romans fertiggestellt. Als ich die letzte Version des Drehbuchs geschrieben habe, habe ich mich einige Male dabei ertappt, wie ich innehielt – ich hatte Mühe weiterzuschreiben. Die Sprache der Nazis war auf einmal wieder aktuell geworden. Wir hören diese Reden jeden einzelnen Tag, nicht nur von extremen Kräften, sondern auch von Politikern, die wir für seriös halten, die am Ruder sind. Eine unfassbare Rhetorik ist dabei, stubenrein zu werden. Es ist leicht, sich da frustriert zu fühlen, machtlos. Aber für mich ist Über die Grenze auch zu einer Erzählung geworden über die Kraft des Erzählens. Durch die Identifikation mit den Menschen in der Fiktion können wir uns öffnen, können wir erkennen, etwas wagen. Und wir können etwas verstehen – sowohl die Welt um uns her als auch das, wovor wir Angst haben. Durch das Abenteuer, durch die Erzählung überwindet die Hauptfigur Gerda nicht nur ihre eigene Angst, sondern auch die ihres Freundes. So gesehen ist Gerda auch zu mir geworden. Denn was kann ich anderes tun mit all dem, was ich nicht verstehe und vor dem ich Angst habe, als zu schreiben und zu erzählen, Geschichten zu erschaffen, Mitleid und Identifikation zu erzeugen?

ASC | Sie sind bekannt dafür, dass Sie vor dem Schreiben intensiv Recherche betreiben. Für Die Geschichte der Bienen haben Sie sogar ein Praktikum bei einem Imker absolviert. Wie haben Sie zum Thema Besatzungszeit recherchiert?
ML | Für mich ist es immer wichtig, objektiv zu sein, wenn ich mich mit einem Thema aus der Wirklichkeit beschäftige. Für dieses Thema gilt das vielleicht ganz besonders. Ich habe etliche historische Quellen benutzt und der Fluchtgeschichte tatsächliche Geschehnisse zugrundegelegt. Ich habe Aufzeichnungen von Menschen gelesen, die selbst in dieser Zeit aus Norwegen nach Schweden geflohen sind, außerdem habe ich mit mehreren Über­lebenden gesprochen. Zudem war ich im Austausch mit Historikern. Obwohl mir vieles bereits bekannt war, als ich mit der Arbeit an dem Buch anfing, habe ich während des Schreibens noch viel dazugelernt. Unter anderem wusste ich nicht, dass weder deutsche Soldaten noch nazistische Organi­sationen für die Verhaftung der Juden verantwortlich waren, sondern die norwegische Polizei. Norwegische Polizisten nahmen ihre eigenen Landsleute fest. Das hat mich schockiert. Übrigens wurde darüber früher nur wenig gesprochen, nur wenige wussten davon. Aber das hat sich in den letzten Jahren zum Glück geändert.

ASC | Was ist Ihr Eindruck: Wie gehen die Norweger nach fast siebzig Jahren mit diesem Teil ihrer Geschichte um, wie begegnen Sie uns Deutschen?
ML | Meine Großeltern und viele ihrer Generation waren den Deutschen gegenüber sicher­lich skeptisch. Der Krieg hatte seine Spuren in ihnen hinterlassen. Mein Eindruck heute ist, dass von dieser Skepsis wenig zurückgeblieben ist. Deutschland, so wie ich es sehe, ist heute eines der wichtigsten Länder der Welt im Kampf für Demokratie und Toleranz. Ich glaube, das sehen viele so.