Walther Streffer

Was macht ein Schimpanse am PC?

Nr 238 | Oktober 2019

Nach über 30 Jahren Forschung hat der japanische Primatenforscher Tetsuro Matsuzawa bestätigt, dass Schimpansen über außergewöhnliche kognitive Fähigkeiten verfügen: Schon im Alter von 5 Jahren hatte die Schimpansin Ai verschiedene Farben und Gegenstände samt den zugehörigen japanischen Schriftzeichen gelernt. Später kamen die lateinischen Buchstaben hinzu. Und sie lernte bei etwa 300 Gegenständen Zahl, Farbe und Schrift zuzuordnen. Ai beherrschte auch die Zahlenfolge von 1 bis 19, das heißt, sie konnte die auf dem Bildschirm zufällig verteilten Ziffern richtig in aufsteigender Reihenfolge anklicken.
Die fast unglaubliche Testreihe setzte sich bei ihrem jugendlichen Sohn Ayumu (geboren 2000, Foto oben) fort: Er konnte ebenfalls die willkürlich auf einem Bildschirm angeordneten Ziffern von 1 bis 9 in der richtigen Reihenfolge anklicken. Danach wurden, sobald der Affe ein Feld mit dem Finger berührte, die Ziffern durch weiße Quadrate überdeckt, und er musste nun – von jeweils wechselnden Grundpositionen aus – die Kästchen in aufsteigender Zahlenfolge anklicken. Die Versuchsbedingungen wurden weiter erschwert, indem die Zeit des Wahrnehmens verkürzt wurde: Ayumu klickt heute die Ziffern in der sensationeller Geschwindigkeit von 60 Millisekunden (also 0,06 sec) fast mühelos vom Schirm! Das ist ein Schwierigkeitsgrad, der erstaunenswert ist. Man muss das selbst einmal üben, um zu verstehen, was hier ein Tier leistet.
Schimpansen scheinen über ein außer­ordentliches Kurzzeitgedächtnis zu verfügen. Jedenfalls ist ein Schimpanse fähig, abstrakte Symbole wie Ziffern wahrzunehmen, sie voneinander zu unterscheiden, sich die genaue Position der Symbole einzuprägen und blitzschnell die verdeckten Ziffern – entsprechend der analogen Reihenfolge – aus dem Gedächtnis abzurufen! Jeder kann sich auf Youtube diese Videos ansehen, wie Ayumu gelassen die vorgestellten Ziffern anklickt. Die durchschnittliche Fehlerquote von etwa 25 Prozent erklärt der Primatenforscher mit reiner Schlampigkeit. Es ginge den Schimpansen weniger um Präzision, sondern sie setzten aufs Tempo, weil jeder Erfolg mit einigen Apfelstückchen belohnt wird.
Da wir aufgrund der epigenetischen Forschungsergebnisse heute annehmen dürfen, dass die intelligenten Leistungen und Ver­haltensweisen der Eltern ins Epigenom übergehen, mag die besondere Intelligenz von Ayumu auch damit zusammenhängen, dass die kognitiven Fähigkeiten seiner Mutter Ai bereits geschult waren.
Hinsichtlich der tierischen Klugheit scheinen asiatische Primatologen viel weniger Probleme mit der Intelligenz der Affen (und der Vormenschen) zu haben als westliche Forscher, was wohl damit zusammenhängt, dass Asiaten von alters her ein anderes Verhältnis zu Affen haben als Europäer. Während in den meisten Forschungsinstituten der Welt sich erwachsene, kraftstrotzende Schimpansen bei ähnlichen Intelligenztests stets nur abge­sichert hinter Gittern oder Panzerglas bewegen dürfen, leben die Mitarbeiter im Primaten­zentrum der Universität Kyoto hautnah mit ihren Affen. Die Affen haben zudem draußen einen riesigen Kletterturm, und Ayumu wird nicht zu einer bestimmten Zeit zum Test geholt, sondern er kommt, wann er Lust hat. Und er geht direkt ins Büro von Prof. Matsuzawa, wo zuerst eine kräftige Begrüßungsszene nach Schimpansenart mit Boxen und Streichel­ein­heiten stattfindet. – Haben die außergewöhn­lichen Leistungen von Ai und Ayumu auch mit diesem persönlichen Umgang von Mensch und Tier zu tun? Weckt der Mensch bei einem Tier möglicherweise durch seine liebevolle Zu­wendung bisher verborgene Fähigkeiten?