Doris Kleinau-Metzler

Die eckige Wende

Nr 239 | November 2019

«Weil Leben Veränderung ist»

In Leipzig steht ein Haus, das heißt «Runde Ecke». Etwas Rundes, das eckig ist? Aber ja, jeder kennt hier die runde Ecke! Vor der Wende im Herbst 1989 – als durch massen­hafte Proteste von Bürgerinnen und Bürgern der DDR der Weg zu einem vereinten Deutschland begann – war das Haus der Bezirksverwaltungssitz der gefürchteten «Stasi» (Stasi = Staatssicherheitsbehörde in der DDR = Deutsche Demo­kratische Republik). Heute beherbergt es die Dauerausstellung zur «Stasi-Macht», in der anschaulich wird, was Stasi war und was damit auch Hintergrund der Wende ist: Nur mit umfassender Überwachung aller Bürger, in allen Lebensbereichen, massiven Maßnahmen und staatlicher Gewalt konnte sich das staatliche System halten, wurde Massenflucht verhindert. Zu sehen sind hier Abhörwanzen, gefälschte Stempel und Medikamente, Pässe, Flugblätter, Geräte zum unauffälligen Öffnen von Briefen, Geruchskonserven von Verdächtigen, viele Fotos sowie diverse Aktennotizen und Briefe in Funktionärsdeutsch. Manches, wie die minutiöse Proto­kollierung eines zufälligen Gesprächs an einer Tankstelle, weckt Unbehagen. Ob meine Ost-Verwandten überwacht wurden, wenn ich sie besuchte – und ich auch? Auf 100 DDR-Bewohner kam ein «Stasi»-Mitarbeiter, die Tausenden in der dama­ligen Bundesrepublik nicht mitgezählt.

Das Museum ist gut besucht, Fremdsprachen sind zu hören. Vor dem Eingang sammelt sich eine Schulklasse aus Borna. Was denken sie über die DDR? «Na ja, mein Opa erzählt viel. Heute ist es freier.» Gibt es für die Schüler Unterschiede zwischen Ost und West? Kurze Pause. «Hier lebt man besser. Die Leute sind freundlicher.» Einige nicken. Für Leipzig scheint es bewiesen – in einer Umfrage des Instituts für Handelsforschung unter Passanten verschiedener deutscher Städte erzielte Leipzig das beste Ergebnis aufgrund seiner Einkaufsmöglichkeiten, Grün­flächen und dem Flair der Stadt.
Ja, Altes und Neues verbindet sich in Leipzig vielfältig: Bachs Thomaskirche mit dem weltbekannten Thomanerchor, eine zum Kaufen und Bummeln einladende Fußgängerzone, alter Marktplatz und neues Zeitgeschichtliches Forum. Dazwischen ziehen sich Grünzonen und Hinweise der historischen «Notenspur» sowie die Erinnerungsstelen der 1989er «Friedlichen Revolution» durch die Innenstadt.
«Friedliche Revolution» – kann eine Revolution eigentlich friedlich sein? Laut Duden ist es ein «(gewaltsamer) Umsturz der bestehenden politischen und sozialen Verhältnisse». Ich denke an die Schreckens­bilder von Revolutionen, an blutig niedergeschlagene Umsturzversuche weltweit. Aber es war anders im Herbst vor 30 Jahren ? die Revolution blieb friedlich!

  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
Fotos: © Wolfgang Schmidt | www.wolfgang-schmidt-foto.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

In den 30 Jahren seither hat die Wende für manche damals Jubelnde wohl an Glanz verloren, der Alltag ist grauer und schwieriger als vorher gedacht. Und doch bleibt die Wende weltweit Zeichen der Ermutigung für das, was möglich sein kann.
Zu verdanken ist diese Revolution den hunderttausenden friedlich demonstrierenden DDR-Bürgern – nicht nur in Leipzig, wenn auch von hier durch die regelmäßigen Montagsdemonstrationen der entscheidende Wende-Anstoß kam. Die Dauerausstellung zur «Friedlichen Revolution» im vierten Stock im ehema­ligen Stasi-Kinosaal ? um die Ecke der «Runden Ecke» herum – informiert zudem über die lange vor 1989 beginnenden friedlichen Aktionen der DDR-Opposition.
Oft fanden sie im kirchlichen Umfeld statt wie die Friedensgebete mit Pfarrer Christoph Wonneberger in der Nikolai­kirche in Leipzig. Dokumentiert sind auch der Volks­auf­stand 1953, weitere Protestaktionen in Leipzig vor 1989 und die von Bürgern nachgewiesenen Wahlfälschungen bei den DDR-Kommunalwahlen im Mai 1989 (für manche ein letzter Anstoß zur Wende).
Rainer Müller (Fotos in der Bildergalerie, Mann mit Bart) führt heute durch das Museum im 4. Stock des ehe­maligen Stasi-Kinos. Er verweigerte in der DDR den Wehrdienst, durfte nicht studieren und engagierte sich schon früh für freie Meinungsäußerung («eine halbe Stunde gestanden mit einem Plakat als Protest gegen die Mauer von 1961, dann ein Jahr im Gefängnis …»). Auch Umweltschutz war damals sein Anliegen, denn Smog und vergiftete Flüsse (Braunkohle­tagebau, Chemieindustrie) waren allgegenwärtig. Heute ist vieles saniert, und bei schönem Wetter locken Leipzigs ausgedehnte Wasserstraßen und Seengebiete Einheimische und Touristen.

Zu dem vor 1989 zunächst kleinen Kreis der damals in Leipzig engagierten Menschen, die Freiheit wollten, aber doch in ihrer Stadt, Leipzig, blieben, gehört auch Tobias Hollitzer, heute vom Bürgerkomitee Leipzig e.V. und Leiter der Gedenkstätte «Runde Ecke».
Viele seiner Freunde sind nach 1989 in den Westen gegangen, manche zurückgekommen, neue sind aus dem Westen nach Leipzig ge­zogen. «Ossie?» – «Wessie?» Viel zu ein­fache Schablonen, denn «woran macht man es fest? Muss man im Staatsgebiet der DDR geboren sein? Was ist mit den im Westen Geborenen, die seit Jahrzehnten hier leben? Mit denen, die nach 1989 geboren wurden? Sie sind doch nicht nur deshalb etwas Besonderes, sondern unterschiedliche Menschen.» Das Beharren und Neu-Erfinden einer «Ossi-Besonderheit» empört ihn, auch weil «solche verein­fachenden Zuschreibungen verhindern, dass die durchaus bestehenden wirklichen Probleme, auch manche Fehl­leistungen des Einigungsprozesses, bearbeitet werden können. Und man
übersieht, was an Positivem seitdem passiert ist!»
Er hört immer wieder den Vorwurf einer Entwertung von DDR-Biografien, aber «man entwertet doch nicht das Vergangene, wenn man ausspricht, was war. Jeder, der in der DDR gelebt hat, kennt doch das allgegenwärtige Klima der Angst!
Natürlich wurde hier auch gut gelebt und gearbeitet, manches aufgebaut, und wir hatten Freude und Freunde. Sicher gibt es biografische Besonderheiten und Menta­litäts­unterschiede, aber die gibt’s auch zwischen Bayern und Ostfriesen.»
Ja, auch in Leipzig gibt es heute – wie in vielen anderen Städten in den anderen Bundes­ländern ? Wohnbezirke außerhalb des florierenden Zentrums, die von struktureller Armut geprägt sind (wie Grünau, Lindenau und Möcken), in denen Arbeiter­familien, Arbeits­lose, Alleinerziehende und kinderreiche Familien leben – mit und ohne Migrationshintergrund – und wenig Chancen auf Verbesserung ihrer Situation haben.

Vom sehenswert renovierten Hauptbahnhof führt die Straßenbahnlinie 11 Richtung Südvorstadt, die mit ihren Cafés und Läden zu den attraktivsten Stadtteilen Leipzigs zählt. In einer Nebenstraße der «Karli» (Karl-Liebknecht-Straße) liegt das Lokal Horns Erben. Der zu DDR-Zeiten enteignete Eigentümer ermöglicht nun in seinem wieder erlangten Haus die «Nachwende-Kulturinitiative» (mit Musik, Literatur und Kabarett-Veranstaltungen) in traditionsreichem Rahmen. Neues und Altes verbindet sich eben immer wieder verblüffend in Leipzig – und wächst.

Die Revolution, die Wende war friedlich, aber nicht rund. Entscheidend, wie sich manches am Wendeereignis abrunden kann, wird sein, «dass wir komplexere Geschichten aus Ost und West erzählen» – so der Regisseur Andreas Dresen zu seinem preisgekrönten Film über den singenden DDR-Baggerfahrer Gundermann. Und Tobias Hollitzer ist bereit, auch heute anzuecken für das Grundrecht auf Mei­nungs­freiheit, für das er 1989 auf die Straße gegangen ist – auch wenn er dafür von manchen Weggefährten ins Abseits gestellt wird, denn «in der Demokratie wird immer um Kompromisse gerungen, wir müssen es ertragen und uns damit auseinandersetzen. Weshalb ich mich der Verbotsforderung von Demonstrationen für bestimmte Meinungen oder Parteien nicht anschließen kann – auch wenn sie mir persönlich nicht gefallen, aber eben vorhanden sind und nicht strafrechtlich relevant.»

Demokratie ist keine einfache Sache. Was gibt es Besseres für die Zukunft als zu lernen, dass sie offen und gestaltbar ist – «weil Leben Veränderung ist» (Tobias Hollitzer). Wie damals – im Herbst 1989.