Walther Streffer

Ein Schimpanse lernt die Gebärdensprache

Nr 239 | November 2019

Alle Versuche, jungen Schimpansen das Sprechen beizubringen, waren gescheitert, weil den Tieren dazu das geeignete Stimmwerkzeug fehlt. Deshalb verfolgte das Forscher-Ehepaar Beatrix und Allen Gardner an der University of Nevada eine andere Idee: Sie setzten nicht auf das gesprochene Wort, sondern mit Erfolg auf die Gesten der Amerikanischen Gebärdensprache ASL (American Sign Language), wie sie Gehörlose in den USA und Kanada seit Beginn des 19. Jahrhunderts verwenden. Im Alter von etwa zehn Monaten kam die in Westafrika geborene Schimpansin Washoe 1966 zu den Gardners, die sie wie ein menschliches Kind behandelten und ausschließlich in der Gebärdensprache mit ihr kommunizierten. Ihr Trainer Roger Fouts erwarb später durch seine Studie über das «Washoe Projekt» den Doktorgrad.
Washoe lernte im Laufe von einigen Jahren mehrere hundert ASL-Zeichen sowie diverse Zeichenkombinationen, die meist aus zwei oder drei Gesten bestanden. Bereits nach kurzer Zeit konnte sie viele Zeichen richtig anwenden, und sie kombinierte spontan Zeichen in einer für die Kommunikation mit ihrem Trainer sinnvollen Weise, ohne dass ihr diese Kombinationen eigens beigebracht worden waren. Washoe vermochte auch Zeichen zu einfachen Sätzen zusammenstellen. Fragen stellte sie durch ein Hochziehen der Augenbrauen und durch verlängerte Gebärden, ähnlich wie es Taubstumme tun. Sie war in der Lage, eigene Bedürfnisse mitzuteilen, auf Befehle und Fragen zu reagieren, ihre Pfleger beim Namen zu nennen und mit ihnen zu interagieren. In einigen Fällen verwendete Washoe die Zeichensprache sogar recht originell: Sie kreierte zum Beispiel aus einfachen Wörtern neue Bedeutungen, etwa «öffnen, essen, trinken», was «öffne den Kühlschrank» bedeuten sollte. Sie schuf auch Innovationen wie «Wasser, Vogel» für einen Schwan.
Während Kritiker skeptisch waren, ob die Schimpansin die Wörter wirklich verstanden hat, war Washoe für andere Forscher ein gutes Argument für eine menschenähnliche Sprachaneignung und -nutzung. Wie immer man dazu stehen mag, ein hohes Maß an kognitiven Fähigkeiten ist diesem besonderen Individuum in der Schimpansenwelt nicht abzusprechen. Das zeigte sich besonders, als 1978 ein junger Affe namens Loulis zu Washoe kam. Die Schimpansin adoptierte Loulis gewissermaßen, brachte ihm bis zu 60 Vokabeln der Gebärdensprache bei und kommunizierte so mit ihm. Damit war Loulis das erste Tier, das ein menschliches Kommunikationsmittel von einem nicht-menschlichen Wesen gelernt hatte. Washoe setzte die ASL-Zeichen auch gegenüber anderen Artgenossen ein. Als die Schimpansin beispielsweise eines Tages sah, dass ein anderer Schimpanse von einer Schlange bedroht wurde, signalisierte sie diesem die Gefahr mittels der Gebärden «komm, Umarmung», zog den Artgenosse dann aber schließlich mit der Hand von der Gefahr weg, als sie merkte, dass er sie nicht verstand.
Der bedeutende Unterschied zur mensch­lichen Sprache soll hier nicht verwischt werden, denn nach heutigem Kenntnisstand ist es einem Tier nicht möglich, die menschliche Sprache zu erwerben. Wohl aber kann ein Tier, wie Washoe gezeigt hat, durchaus Sprachverständnis entwickeln. Und so wie der Mensch sich seine Sprache erwerben muss, so hat sich auch Washoe ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten durch jahrelanges Üben erworben. Diese Schimpansin hat als erstes Tier die Zeichen der amerikanischen Gebärdensprache erlernt und aktiv benutzt und ist so in gewisser Weise über ihre Art hinausgewachsen. – Seit 1980 bis zu ihrem Tod am 30. Oktober 2007 lebte Washoe in einem großen Freilandareal der Central Washington University. Sie wurde 42 Jahre alt.