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Erna Sassen

Ein Indianer wie du und ich

Nr 239 | November 2019

gelesen von Simone Lambert

Boaz ist gut in der Schule, die anderen Schüler schreiben bei ihm ab. Es macht ihm nichts, nur, wenn sie seine Bildideen kopieren, ärgert er sich.
Boaz ist gerne still und spielt gern allein. Da ist es recht, dass die Neue in der Klasse wenig spricht, weil sie Niederländisch noch nicht beherrscht. Aber Boaz und Aisha verstehen sich auch ohne Worte. Boaz mag Aisha auf Anhieb. Dunkeläugig und dunkelhaarig und etwas traurig – Boaz ist überzeugt, sie ist eine Sioux. Denn sie liebt Indianer genauso wie er.
Boaz begeistert sich vor allem für die Maya-Kultur. Und so kommt er auf die Idee, mit Aisha eine Arbeit über «Die netten Seiten der Maya» zu machen, denn die grausamen Aspekte dieses Volkes mag Aisha nicht so gern.
Die Dinge geraten ins Trudeln, als Lehrer und Eltern beschließen, Boaz eine Klasse überspringen zu lassen. Boaz will aber nicht von Aisha getrennt werden und er reißt aus …
In Boaz gibt es eine wilde, emotionale Seite – die Nähe zu Tieren, seine Wut –, aber er liebt auch Ordnung, Struktur, ist selbst­bewusst und reflektiert. Sichtbar wird dies in seinem Indianermuseum, dass er in Omas Scheune eingerichtet hat. Boaz lebt in seiner Fantasiewelt, ist zugleich aber von einer Nüchternheit und Rationalität, die echte Neugier und Kreativität oft begleitet. Als Aisha in die Klasse kommt, soll er ihr ein bisschen helfen; es ist Aisha, die ihm in die Wirklichkeit hilft, wie er am Ende seiner Oma lachend erklärt. Als er begriff, dass sie ein syrisches Flüchtlingsmädchen ist und keine Indianerin, änderte es nichts: «Sie macht [ihn] genauso froh wie zu Anfang!»
Boaz hilft Aisha, die kein Geschrei und keine Panik verträgt, über die Kriegserinnerungen und den Fremdenhass hinweg. Erna Sassen verbindet starke, ausdrucksvolle Sätze beispielsweise mit den Maya-Passagen und verbirgt darin Botschaften über den Krieg, die sich erst beim genauen Lesen erschließen.
Ein Indianer wie du und ich definiert Boaz’ Auffassung von Menschsein: «Ein Indianer denkt lange nach, bevor er etwas sagt; er liebt Tiere sehr und auch die Natur, und er ist tapfer und mutig.» Demnach ist, das macht ihm die Oma klar, Aisha ein echter Indianer – und Boaz auch.
Die Illustrationen in Schwarz, Rot und Weiß nähern sich stilistisch an die Petro­glyphen der Mayas und zugleich an Kinderzeichnungen an. Die Bilder sind ausdrucks­- stark und intensiv und greifen in das Textbild ein. Die Zeichnungen unterlegen die Schrift, nehmen ganze Seiten ein; Infokästen auf rotem Feld liefern Material über Indianer.
Die dramatisch-emotionale Ausstattung zieht uns in Boaz Vorstellungswelt, in seine Ängste und seine Wut.
Es ist Erna Sassen in ihrem ersten ins Deutsche übersetzten Kinderbuch (bislang erschienen drei ausgezeichnete Jugendromane von ihr im selben Verlag) gelungen, eine Sprache zu finden, die dem Alter und Bewusstseinsstand des Jungen entspricht, die ihn ernstnimmt und dennoch reflektiert und anregend ist. Sie siedelt die Geschichte in einem Umfeld an, das von Offenheit und Vertrauen geprägt ist, selbst gegenüber dem strengen, ehrgeizigen Vater. Ihm begegnet der Junge nach seinem Gefühlsausbruch überlegt. In einem vorbereiteten Gespräch legt er ihm überzeugend dar, warum er nicht in die nächsthöhere Klasse wechseln will. Und sein Mut wird belohnt …
Es ist ein Gewinn, dieses Buch Kindern nahezubringen. Es ist eines jener Bücher, die man wirklich liebt.