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Jean-Claude Lin

Schöpferische Ruhe

Nr 239 | November 2019

Jeder berufstätige Mensch läuft heutzutage Gefahr, in eine die Laune und Gesundheit verderbende Rastlosigkeit zu geraten. Das erfuhr ich wieder einmal, als ich nach einem ausgefüllten Arbeitstag innerhalb einer ohnehin von diversen Besprechungen, Abstimmungen, Erwägungen, Entgegnungen und Erledigungen vollgestopften Woche mich anschickte, etwas zur Einleitung dieses zehnten Bandes der Einsamen Hunde aufschreiben zu wollen: Ich war leergepumpt. Es wollte mir nichts einfallen. Gar nichts. Schillers Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen blätterte ich von vorne bis hinten und wieder von hinten nach vorne durch, um unter den von mir früher unterstrichenen Stellen nach einem passenden Eingangsmotto zu suchen, wie ich dies für die vorangehenden neun Bände getan hatte. Lange im Voraus hatte ich an eine Stelle über Friedrich Schillers Unterscheidung zwischen der «schmelzenden» und der «energischen» Schönheit gedacht. Aber vor die Aufgabe gestellt, das passende Zitat dazu bestimmen und fassliche, erläuternde Worte hinzuschreiben zu müssen, versagte mir der Elan im Gefühl der Unfähigkeit und Ohnmacht. Einzig die Worte aus der Mitte des neunten Briefes schienen mir wie ein Stern am nächtlichen Himmel zu leuchten: «schöpferische Ruhe» und «der große geduldige Sinn».
Ich entschied mich für eine kleine Pause, ging hinunter in die Waschküche und wusch meine schwarzen Hosen und Hemden, die ich immer von Hand wasche, um die lästigen Streifen zu vermeiden, die beim Waschen in der Waschmaschine oftmals auftreten. Diese mir selbst gegönnte Ruhe in der Tätigkeit verband mich wieder mit der Welt, sodass ich spüren konnte, wie neue Lebenskräfte sich in mir regten. So leuchteten mir die weiteren Worte Schillers in seinem neunten Brief unmittelbar ein: «Gib also, werde ich dem jungen Freund der Wahrheit und Schönheit zur Antwort geben, der von mir wissen will, wie er dem edeln Trieb in seiner Brust, bei allem Widerstande des Jahrhunderts, Genüge zu tun habe, gib der Welt, auf die du wirkst, die Richtung zum Guten, so wird der ruhige Rhythmus der Zeit die Entwicklung bringen.»
Freunde der Wahrheit und Schönheit haben wir, so will es mir scheinen, durchaus unter den Komponisten unserer Einsamen Hunde aus Japan. Schauen Sie sich einmal das Sudoku 085 an. (Aber Vorsicht: Es hat den Schwierigkeitsgrad Level 9!). Die vorgegebenen Zahlen sind so angeordnet, dass wir zwei Rauten haben: Die Seiten der größeren Raute werden durch jeweils vier Zahlen gebildet, also insgesamt sechzehn, die Seiten der kleineren Raute werden insgesamt durch acht Zahlen ge­bildet, und zwar 1, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9. Die 2 fehlt! Könnte es nicht sein, dass die 2 genau in der Mitte des Sudokus auftauchen wird? Um das herauszufinden, müssen wir aber erst das Sudoku lösen.
Die Regel dazu ist denkbar einfach: Setze in jedes leere Feld eine Zahl von 1 bis 9, sodass in jeder Zeile und jeder Spalte und jedem der 3 x 3 Quadrate die Zahlen 1 bis 9 nur einmal vorkommen. Die vorgegebenen Zahlen sind alle so gewählt und an ihrer Stelle gesetzt, dass wir durch bloßes folgerichtiges Denken alle noch fehlenden Zahlen eines Sudokus selbst bestimmen können.
Jedes dieser original japanischen Sudokus von den Rätselkomponisten des Nikoli Verlags in Tokyo, – der auch den Namen «Sudoku» (= «mehrere Einzelne» oder «mehrere Einsame») dafür erfand, weil die Zahlen 1 bis 9 in jeder Zeile, Spalte und 3 x 3 Quadrat immer nur einzeln vorkommen dürfen –, ist wie ein Bild von «schöpferischer Ruhe»: Die Figuren, die die Zahlen bilden, ruhen, aber alle noch verborgenen Zahlen «wollen» offenbar werden, «warten» auf Entdeckung. Das ist auch ein
Aspekt des Vorgangs des Schöpfens, des Schöpferischen.