Nicht stehen bleiben

Nr 240 | Dezember 2019

Als der Geiger Felix Radicati einmal in Beethovens Anwesenheit zum Ausdruck brachte, wie schwer verständlich dessen Streichquartette Opus 59 waren, äußerte sich der bereits mit seiner schleichenden Taubheit hadernde Komponist ungehalten: «Sie sind auch nicht für Sie, sondern für eine spätere Zeit.» Zu dieser Zeit, 1805/1806, waren die dritte Sinfonie, die «Eroica» in Es-Dur, die einen Aufbruch in ein neues Zeitalter markierte, und die Klaviersonate Nr. 23, die «Appassionata» in f-moll, entstanden, und Beethoven komponierte das vierte Klavierkonzert in G-Dur, wie auch das Violinkonzert in D-Dur, die zur «heroischen» Epoche im seinem Schaffen zählen. Nach den ersten, früheren sechs Streichquartetten Opus 18 und den folgenden mittleren drei «Rasumowski»-Quartetten, Opus 59, sowie dem zehnten, dem sogenannten «Harfenquartett», Opus 74, bemerkte Beethoven zu seinen späten Streichquartetten Opus 127, 130-133 und 135, wozu auch das Quartett Opus 95 vom Charakter her gezählt werden kann: «Die Kunst will es von uns, dass wir nicht stehen bleiben.» So wurden immer wieder besonders die späten Quartette Ludwig van Beethovens, aber auch die Entwicklung innerhalb seiner sechzehn Streichquartette überhaupt, als exemplarische Wegmarken der klassischen wie auch als prophetische Würfe einer zukünftigen Musik empfunden, die weit über die Zeit der Wiener Klassik hinauswiesen.
Als der englische Geiger Edward Dusinberre zu den Mitgliedern des ursprünglich 1975 in Ungarn gegründeten und seit 1986 in Boulder, Colorado, beheimateten Takács Quartet hinzustieß, war er erst vierundzwanzig Jahre alt und noch ohne Erfahrung als Mitglied eines Streichquartetts. Wie er das Vorspiel überstand und was er mit dem weltweit renommierten Ensemble, insbesondere beim Einstudieren und durch die zahlreichen Aufführungen von Beethovens Streichquartetten, erlebte, hat er überaus lebendig und heiter in seinem Buch Beethoven für eine spätere Zeit – Unterwegs mit einem Streichquartett erzählt.
Mein Cello spielender Kollege Martin Lintz und ich trafen Edward Dusinberre am Vorabend zu einem Konzert des Takács Quartet im Festspielhaus in Baden-Baden. Als wir nach der Probe mit ihm ein Lokal zum Abendessen aufsuchten, hielt uns ein Fremder an: «Ach, Sie sind doch der Geiger Edward Dusinberre, oder nicht? Ich komme aus Köln und spiele Bratsche in einem Streichquartett. Ich habe Ihr Buch gelesen und wollte unbedingt ein Konzert von Ihnen hören. So bin ich hier! Alles Gute für morgen!» Nur kurz waren wir stehen geblieben. Hoch erfreut über diese spontane Begegnung setzten wir unseren Weg umso beschwingter fort.
Mögen wir alle, liebe Leserin, lieber Leser, gelegentlich freudig angehalten, unsere Wege vom alten ins neue Jahr beschwingt gehen – und hin und wieder uns begleitet und bestärkt fühlen vom Kosmos Beethoven, dessen 250. Geburtstag 2020 klangvoll gefeiert werden wird.

Von Herzen grüßt Sie,
Ihr
Jean-Claude Lin